Die Kupplerin Hongniang 红娘 im Xixiangji 西厢记

Eine komparatistische Betrachtung

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Das Yuan-zeitliche Drama Xixiangji (Das Westzimmer)

Das Xixiangji des Wang Shifu 王实甫 (13. Jahrhundert) gilt in China als das wohl bedeutendste Werk der Yuan-Bühne. Im Westen dagegen wurde es lange Zeit wenig beachtet und oft negativ bewertet. In neuerer Zeit haben chinesische und westliche Wissenschaftler unser Wissen über das Drama wesentlich bereichert. Bahnbrechend waren Untersuchungen zur Yuan-zeitlichen Bühnensprache und zu den verlorenen Schauspieltraditionen. Vor allem bemühte man sich um die Rekonstruktion der Yuan-zeitlichen Texfassung des Westzimmers. Neue Manuskriptfunde und die Sichtung Ming- und Qing-zeitlicher Kommentare ermöglichten es, Licht in die komplizierte Textgeschichte zu bringen. Einem größeren Leserkreis zugänglich wurde das Xixiangji durch die ausgezeichnete wissenschaftliche Edition und Übersetzung von Stephen H. West and Wilt Idema. Obwohl noch viele Fragen ungelöst sind, bestehen  die Voraussetzungen für eine Neubetrachtung.

In China wird das Schauspiel im allgemeinen gedeutet als Protest gegen das konfuzianische Ehesystem. Nach Meinung chinesischer Kommentatoren spielt sich im Westzimmer ein Konflikt ab zwischen qing 情und li 礼,zwischen Gefühl und Sitte. Die Vereinigung der Liebenden gegen den Willen der Mutter brach gleich zwei von Konfuzianern hochgehaltene Tabus: Die Entscheidungsgewalt der Eltern über ihre Kinder und das Gebot vorehelicher Jungfräulichkeit. Nach konfuzianischem Ritus hatten die Eltern das Recht, den Ehepartner ihres Kindes zu bestimmen. Die Wendung “fumu zhi ming” 父母之命 (wir heiraten auf Befehl der Eltern), findet sich sogar heute noch in chinesischen Hochzeitsanzeigen.

Der zweite Tabubruch ist noch gravierender, nämlich die freiwillige Aufgabe der Jungfräulichkeit und die gewagte Darstellung der ersten Liebesnacht. Schon Menzius hatte junge Leute getadelt, die zu nächtlichen Stelldicheins über Mauern klettern und hatte strengen Abstand zwischen den Geschlechtern gefordert. Seit der Song-Zeit wurde mit der weiblichen Keuschheit ein regelrechter Kult getrieben. Sprichwörtlich wurde das Diktum des neokonfuzianischen Philosophen Cheng Yi: “e si shi xiao, shi jie shi da” 饿死事小,失节事大 (Die Keuschheit ist wichtiger als das Leben). Die Sittenstrenge drastisch exemplifizierende Anekdoten, wie sie Cicero von der römischen Jungfrau Verginia berichtet, sind auch in der chinesischen Literatur nicht selten.

So richtig diese Deutung ist, bleibt sie doch zu eng. In vielen Yuan-Dramen siegt die Liebe über die konfuzianische Moral, ohne dass sie die Bedeutung des Westzimmers erreicht hätten. Das Schauspiel besitzt jedoch eine Besonderheit, die bislang unbeachtet blieb. Während in den Liebesgeschichten der Weltliteratur im allgemeinen das junge Paar im Mittelpunkt steht, etwa Romeo und Julia oder Jia Baoyu 贾宝玉 und Lin Daiyu 林黛玉 im Traum der Roten Kammer (Hongloumeng 红楼梦), ist es hier die Sklavin Hongniang. Ihre Ausstrahlungskraft war so groß, daß seitdem der Name “Hongniang” 红娘zum chinesischen Ausdruck für “Ehevermittlerin” avancierte.

Hongniang als “Überlegene Dienerin”

Ich möchte die Gestalt der Hongniang mit Hilfe des in der westlichen Literatur geläufigen Motivs des “überlegenen Dieners” deuten. Der Rollentausch zwischen Herrschaft und Personal, der sich bis zu Aristophanes zurückverfolgen läßt, findet sich in vielen Quellen quer durch die westliche Literaturgeschichte. Ich nenne nur einige berühmte Beispiele: Plautus-Komödien wie Mostellaria, Epidicus u.a.; Les Fourberies de Scapin von Moliere; Figaro von Beaumarchais sowie die gleichnamige Oper von Mozart; Diderots Jaque le Fataliste; Hofmannsthals Der Unbestechliche; Brechts Herr Puntila und sein Knecht; und nicht zu vergessenThe Inimitable Jeeves von P.G. Wodehouse. Die Tatsache, daß das Motiv in so verschiedenen Sprachen, Zeiten und Kulturen auftaucht, zeigt seine Vitalität und Vielseitigkeit.

In der chinesischen Literatur wurden die “überlegenen Diener” trotz ihrer Häufigkeit bislang nicht behandelt. Meines Wissens erscheint das Motiv erstmalig im Shiji 史记im Kapitel 126 “Huaji liezhuan” 滑稽列传 (Biographien von Clowns). Der früheste ist You Meng (7.Jh. v. Chr.), der mit Ironie und Drohungen verhindert, daß sein beschränkter Fürst die fatalsten Dummheiten begeht. Berühmt sind auch Chin Yukun (4. Jh. v.Chr.), ein höchst redegewandter Zwerg sowie Dongfang Shuo 东方朔 (2. Jh. v.Chr.). 

Während Sima Qian die rebellischen Clowns als positive Helden schildert, galten sie später als staatszersetzend und verschwanden aus der offiziellen Geschichtsschreibung. Dafür bevölkerten sie bald in vielen Variationen die mündliche und schriftliche Erzählliteratur und das Drama. Einer der bekanntesten Vertreter ist Huang Fanchuo (9.Jh.), der “König der Clowns”. Welche Funktion besitzt das Motiv im Westzimmer?

Im Tang-zeitlichen Shiji-Kommentar von Sima Zhen 司马贞 findet sich eine Definition des Wortes huaji 滑稽 “Clown”, die auf das Han-zeitliche Lexikon Shuowen jiezi 说文解字 zurückgeht:

Das Schriftzeichen hua 滑 bedeutet “Zerstörung von Grenzen”, das Zeichen ji 稽 dagegen “Verbindung zu einer Einheit”.

In freier Übertragung läßt sich diese Definition auch auf Hongniang anwenden: Sie zerstört Standes-, Literatur- und Sprachgrenzen, um aus den Gegensätzen neue überraschende Synthesen zu schaffen. Dadurch wird sie zur wohl interessantesten Vertreterin der an überlegenen Dienern reichen chinesischen Literatur.

Die Entwicklung der Hongniang vollzog sich im Lauf vieler Jahrhunderte. Urtext ist die Tang-zeitliche Erzählung Huizhenji 会真记 (Begegnung mit einer Unsterblichen). von Yuan Zhen 元稹 (779-831). Im Mittelpunkt steht der Student Zhang Junrui 张君瑞, der von seiner Begegnung mit der schönen Yingying 莺莺 berichtet. Er trifft sie in einem Tempel, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie tauschen Gedichte aus, die von Hongniang, der Dienerin des jungen Mädchens, überbracht werden. Bald darauf verbringt man im mondbeleuchteten Westzimmer heimliche Liebesnächte. Nach einigen Monaten fährt der junge Mann jedoch zum Examen in die Hauptstadt. Dort beschließt er, sich von seiner Geliebten zu trennen, da diese, so seine Begründung, mit ihrer Libertinage jeden Mann früher oder später ins Unglück stürzen würde.

Die widersprüchliche, stilistisch glanzvolle Erzählung diente chinesischen Schriftstellern über tausend Jahre als Inspirationsquelle. Allerdings mißbilligte das Publikum das Verhalten des jungen Mannes, und so wurde der traurige Schluß meist umgewandelt in eine glückliche Heirat. Eine Durchsicht der mehr als siebzig Nach- und Umdichtungen zeigt, daß sich in ihnen die gesamte chinesische Theatergeschichte spiegelt. Im 10. Jh. in der Song-Zeit übernahmen die Erzähler der guzici 鼓子词 (Trommellieder) den Stoff, die in Teehäusern und Vergnügungsvierteln unter Trommelbegleitung ihre Geschichten vortrugen. Im 12. Jh. in der Jin-Zeit entwickelte sich daraus ein zhugongdiao 诸宫调(chantefable). Aus dieser Zwischenform zwischen Erzählung und Theater entstand in der Yuan-Zeit die künstlerisch bedeutendste Version – das Westzimmer. Es hat die Form eines zaju 杂居, also eines Sprechdramas mit einzelnen Gesangspartien.

Mit dem Wechsel der Darstellungsformen wurde der Stoff tiefgreifend verändert. Aus einzelnen Sätzen der Quelle entstanden oft ganze Szenen oder neue Figuren. In der Tang-zeitlichen Erzählung überbringt Hongniang lediglich Liebesbriefe und breitet in der ersten Nacht für die Liebenden die Bettdecke aus. Im Westzimmer ist sie zum Dreh- und Angelpunkt geworden: Die glückliche Vereinigung kommt nur dank ihrer Vermittlung zustande. Als die Mutter, die für ihre Tochter einen reicheren Bewerber ausgesucht hat, die Ehe ablehnt, greift Hongniang ein: Sie bringt zuerst die Liebenden nächtlich zusammen, um dann, nachdem schon zu viel geschehen ist, von der Mutter die Zustimmung zur Ehe zu erzwingen.

Ein Vergleich mit den früheren Fassungen zeigt: Im Westzimmer wird die Rolle der Hongniang bewußt gehoben, die der Liebenden dagegen gesenkt. Dies zeigt sich schon in der Verteilung der gesungenen Arien. Während in anderen Yuan-Dramen nur eine einzige Rolle singt, hat Hongniang mehr Gesangspartien als das Liebespaar. Ihre beherrschende Stellung ist ihr selbst und den anderen Personen auch bewußt. So bezeichnet sie sich als “Drahtzieher” und “Generalin” (4,2). Der junge Mann wird besonders hilflos und manchmal sogar als komische Figur dargestellt, z.B. wenn er weinend vor Hongniang niederkniet und sie um Hilfe anfleht. (III,2:S.107) oder wenn er Hongniang seine Angst gesteht, als gebildeter Student nachts über eine Mauer springen zu müssen. (III,2: S.108) Die gleiche Überlegenheit zeigt sich im Umgang mit Yingying: Als diese im letzten Moment noch Bedenken bekommt,wird sie von Hongniang mit sanfter Gewalt ins Schlafzimmer gestoßen. Selbst die allmächtige Mutter verwandelt sich in der Diskussionsszene rasch von einer Klägerin in eine Beklagte und muß sich ihrer wortgewandten Dienerin geschlagen geben. (IV,2) 

Vergleichen wir die Gestalt der Hongniang mit ihren westlichen Gegenspielern, so lassen sich gewisse Grundstrukturen erkennen, die das Xixiangji mit der westlichen Literatur teilt. Ähnlich wie Tranio, Epidicus oder Scapin verhilft auch Hongniang mit Witz, Frechheit und Erfindungsgabe der verliebten jüngeren Generation zum Sieg über die konservative ältere. Jedoch steht Hongniang in einer anderen kulturellen und literarischen Tradition.

Wenn Hongniang ihre Herrin beschimpft und der junge Mann sogar vor ihr niederkniet, so rüttelt dies an den Fundamenten der alten chinesischen Gesellschaft: Die drei konfuzianischen Grundverhältnisse jun-chen 君臣 (Herrscher-Untertan), fu-zi 父子 (Vater-Sohn), fu-qi 夫妻 (Mann-Frau) werden allesamt von Hongniang auf den Kopf gestellt. Im Lunyu 论语 12.11 heißt es: “Der Herr sei Herr und der Diener Diener, der Vater sei Vater, der Sohn Sohn”(jun jun, chen chen, fu fu, zi zi 君君,臣臣,父父,子子). Anhand Ming- und Qing-zeitlicher Regierungserlasse läßt sich feststellen, daß dasWestzimmer jahrhundertelang als staatsgefährdend galt. Es wurde häufig indiziert, verbrannt und sein Besitz sogar mit dem Tode bestraft. Der Beliebtheit tat dies keinen Abbruch, vielmehr wurde es zur Bibel verliebter chinesischer Jugendlicher. Freigeister wie Li Zhi 李贽, (1527-1602), Li Yu 李玉 (1611-1680) und Jin Shengtan 金圣叹 (1610-1661) reihten in ihren Kommentaren das Stück provokativ in den klassischen Kanon ein. Seit der Ming-Zeit nannte man es scherzhaft “xiao Chunqiu”小春秋(Kleine “Frühlings- und Herbstannalen”), d.h. man betrachtete es als eine Art Gegenklassiker.

Der Rollentausch zwischen Herrschaft und Personal ist, ähnlich wie in der westlichen Literatur, nicht nur gesellschaftlicher Zündstoff, sondern auch künstlerisch fruchtbar: Er bewirkt dramatische und komische Situationen, eine karnevalsmäßige Umkehr des Gewohnten, die Entdeckung neuer literarischer Ausdrucksmöglichkeiten. Hongniang ist mehr als nur eine erfolgreiche Ehevermittlerin. Sie vermittelt auch künstlerisch zwischen hoher und populärer Liebesgeschichte, zwischen klassischer Schriftsprache und Gemeinsprache und zwischen Autor und Publikum

Vermittlung zwischen hoher und populärer Liebesgeschichte

Hauptpersonen der traditionellen chinesischen Liebesgeschichte sind die caizi jiaren 才子佳人, die “begabten Gelehrten und schönen Mädchen”, also eine Kombination von Talent und Schönheit. Die in der westlichen Literatur häufige Konstellation “kriegerischer Held – schönes Mädchen” findet sich dagegen nur selten. Die Liebe der “Gelehrten und Schönen” äußert sich vor allem im Austausch elegant verschlüsselter Liebesgeschichte. Früheste Quelle ist die Romanze zwischen dem Han-zeitlichen Lieder-Dichter Sima Xiangru 司马相如 und der schönen jungen Witwe Zhuo Wenjun 卓文君. In der Tang- und Song-zeitlichen ci-词Dichtung entwickelte sich dazu ein ganzer Katalog gefühlvoller Bilder und Verhaltensweisen. Parallel zu dieser hohen Form gab es die oft mündlich vorgetragenen, volkstümlich-drastischen Liebesgeschichten, die in der Unterschicht bzw. im Prostituiertenmilieu spielten. 

Im Westzimmer werden durch die Rolle der Hongniang Elemente aus beiden Traditionen zu einer neuen Liebesauffassung verbunden. Zhang Junrui und Yingying leiden wie die traditionellen Helden und Heldinnen an Liebeskrankheit, Liebeswahnsinn, Gewichtsverlust und shang chun 伤春, der erotischen Frühlingsmelancholie. Aber während die Liebenden in Chan-buddhistischen Lichtmetaphern ihre unsterblichen Gefühle besingen, bringt Hongniang sie durch Witz und Spott immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Yingying sieht in Zhang Junrui die Sonne, er in ihr die Mondgöttin Chang’e. Wenn Hongniang dagegen ein Loch in ein Papierfenster leckt, um die beiden zu beobachten, entsteht ein anderes Bild. So erfährt der Zuschauer, daß Zhang Junrui sehr schön und gebildet ist und so attraktiv, daß sogar Hongniang selbst ein gewisse Neigung für ihn verspürt. (II,2:S.67) Leider sei er jedoch nur schön anzusehen, aber nicht sehr nützlich.Er sei viel zu sinnlich und außerdem ein Feigling (II,4:S.127).

Die Liebenden sind weltfremd und leicht verzweifelt, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Als die Mutter die Ehe ablehnt, verliert Yingying allen Lebensmut und empfindet die Liebe als große Illusion, als Schleier der Maja:

Er war nur Geliebter im Spiegel

Ich eine Geliebte im Bild (II,4)

Der junge Mann bittet Hongniang sogar um ihren Gürtel, um sich an einem hohen Balken aufzuhängen. Hongniang dagegen macht sich über diese komplizierte Methode lustig, schlägt eine raschere Todesart vor und gibt schließlich den klugen Rat, Yingying durch eine Lautenserenade zu umwerben. 

Als der junge Mann sich in Erwartung der ersten Liebesnacht als Gott fühlt und die Sonne vom Himmel schießen will, damit es schneller dunkel wird, holt Hongniang ihn wieder auf die Erde zurück mit der Frage nach der Bettdecke:

Du unter deiner Baumwolldecke

Mit einer Laute als Kopfkissen

Und wenn sie kommt

Wie soll sie mit dir schlafen?

Zittern wird sie vor Kälte

Und das soll Liebe sein? (III, 4)

Im Westzimmer findet ein ständiger Wechsel statt zwischen hoch und tief, zwischen Leidenschaft und Lebensnähe. Erstaunlicherweise wird durch die oft parodistischen Wechsel die Liebe keineswegs zerstört, sondern im Gegenteil sogar gesteigert. Weil Hongniang auch die Schwächen der Liebenden enthüllt, wirken diese überraschender und individueller als in den konventionellen caizi jiaren  Geschichten.

Hongniang parodiert nicht nur die traditionelle Liebesromantik, sie setzt etwas Neues an deren Stelle. In der Tang-zeitlichen Erzählung fühlt sich das junge Mädchen noch schuldig, weil sie ihrem Liebhaber nachgegeben hat, und der junge Mann macht ihr später deswegen sogar Vorwürfe. Hongniang dagegen vertritt eine neue Liebesmoral. In ihrem bekannten Liebeslied drängt sie Zhang und Yingying, sich auf ihr eigenes Gefühl zu verlassen und statt Gedichte zu schreiben, lieber zu handeln:

Wenn sein Sinn, wenn dein Sinn

danach steht, war gestern nacht

“Bei den Schaukeln im Hof

In tiefster Nacht”

Im tiefsten Blumen-Mondesschatten, als

“Eine Viertelstunde Frühlingsnacht

Tausend Goldstücke wert war”

Kein Bedarf für Poesie. (III,4)

Obwohl Hongniang sich über die konventionelle Liebeslyrik lustig macht, ist auch ihr Gedicht hohe Poesie. Es verwendet Rythmus und Bilder aus einem Frühlingsgedicht des bekannten Song-Dichters Su Shi 苏轼. In Hongniangs Lied verlagert sich jedoch der Akzent von der Natur zum Menschen, zu einer neuen geistig-sinnlichen Liebesauffassung, die wirklichkeitsnäher, individueller und aktiver ist als die caizi jiaren  Empfindsamkeit.

Eine solche Betonung des persönlichen Gefühls war vielleicht nur in der, wie spätere Konfuzianer klagten, sittenlosen Mongolenzeit möglich. In späteren Jahrhunderten erfolgte wieder eine Trennung zwischen hoher und niedriger Liebe. In späteren Fassungen des Westzimmers konzentrierte man das lyrische Gefühl auf Yingying, die Sinnlichkeit dagegen auf Hongniang. Viele konfuzianische Kommentatoren versuchten das Verhalten Yingyings dadurch zu entschuldigen, daß sie Hongniang alle Schuld gaben. Auch muss in einer Ming-zeitlichen Version Hongniang in der ersten Nacht Yingying im Bett vertreten, wodurch die Jungfräulichkeit der Herrschaft gewahrt bleibt. Es wurde sogar ein Grabstein gefälscht, auf dem zu lesen stand, daß Yingying den von der Mutter gewünschten Bewerber geheiratet habe.

Trotzdem war der Einfluß auf spätere Liebesgeschichten beträchtlich. Jedoch musste vieles vergeistigt und verschleiert werden. In dem Singspiel Mudanting 牡丹亭(Der Päonienpavillon) von Tang Xianzu 汤显祖 (1550-1617) verkehrt die Heldin nur noch in einem sexuellen Traum mit ihrem unbekannten Geliebten, und dieser verliebt sich erst nach ihrem Tode in ihr Bild. Und im Traum der Roten Kammer gestehen sich Jia Baoyu und Lin Daiyu ihre Liebe nur noch durch verschlüsselte Zitate aus dem heimlich gelesenen Westzimmer. Dem entspricht der vom Autor der Roten Kammer geprägte vieldiskutierte Liebesbegriff yiyin, 意淫 wörtl. “Geist-Lust”.

Interessanterweise wurde die von Hongniang vertretene Liebesauffassung auch von kommunistischen Kulturpolitikern wenig geschätzt. Schon 1951 entschied das Theaterkomitee, man solle den Kampf des jungen Paares gegen das konfuzianische Ehesystem in den Mittelpunkt stellen und die Rolle der Hongniang senken. Der Dramatiker Tian Han 田汉schrieb 1957 eine viel gespielte Version, in der er die Hauptrollen auf diese Weise umwertete. Wie im Konfuzianismus wurde die individuelle Liebe dem allgemeinen Wohl, sprich dem Klassenkampf untergeordnet – der “Gemeinnutz” hatte Vorrang vor dem “Eigennutz”. (po si li gong 破私立公) Erst während der Liberalisierung seit Mitte der achtziger Jahre wagten es einzelne Literaturkritiker wieder, in Hongniangs Liebesauffassung positive Tendenzen zu erkennen.

Vermittlung zwischen Schrift- und Umgangssprache

Bis ins zwanzigste Jahrhundert gab es in der chinesischen Literatur eine Trennung zwischen guwen 古文, der klassischen Schriftsprache und baihua 白话, der Gemeinsprache. Dabei fand eine Aufgabenteilung statt: Formelle Gedichte und Essays, die sich an ein gebildetes Publikum richteten, erschienen in Klassisch, Balladen und volkstümliche Erzählungen dagegen in Gemeinsprache. In neueren Forschungsarbeiten wurde diese für das Chinesische charakteristische Diglossie verschiedentlich diskutiert. Ich selbst möchte gewisse künstlerische Aspekte behandeln, die bislang unbeachtet blieben.

Die für gebildete Leser bestimmte Tang-zeitliche Erzählung ist in elegantem Klassisch verfaßt. Das gesamte Yuan-Drama verwendet dagegen einen Mischstil: Die gereimten Arien sind oft in leichtem Klassisch, die gesprochenen Partien dagegen meist in Gemeinsprache verfaßt. Häufig wird dabei der Inhalt der schwierig verständlichen Arien noch einmal in Prosa wiederholt. Der Mischstil von ya 雅 und su 俗, von elegant und gemein, ist im Yuan-Drama eine Notwendigkeit, um einem ungebildeten Publikum das Verständnis zu erleichtern, ohne die höheren literarischen Ansprüche der gebildeten Zuschauer zu vernachlässigen. Gleichzeitig entwickelten sich bestimmte Bühnen-Konventionen. So sprechen Leute aus dem Volk oder Verbrecher meist Umgangssprache, während Helden und Gebildete klassische Verse rezitieren. Auch bei dramatischen Höhepunkten gehen die Personen häufig ins Klassische über.

In der kunstvollen Verbindung von Klassisch und Gemeinsprache erschließt das Westzimmer neue Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei ist es keineswegs so, daß die Herrschaft Klassisch und die Unterschicht Gemeinsprache spricht. Vielmehr beherrschen alle drei Hauptpersonen beide Ebenen. Der Sprachwechsel dient niemals der einfachen Wiederholung, sondern ist der dramatischen Handlung und dem Charakter der Personen angepaßt. So singt Zhang Junrui in der Verführungsszene zuerst ein klassisches Mond-Lied, um danach in einem vulgärsprachlichen Gedicht über zwei Liebesvögel seine nächtlichen Absichten deutlicher zum Ausdruck zu bringen. (II,4:S.88) Dagegen wählt Yingying für ihre Liebesbriefe immer das Klassische, das durch seine vieldeutigen Anspielungen weniger kompromittiert und mehr Rückzugsmöglichkeiten offen läßt als die Gemeinsprache. Yingyings Abschiedsgedicht beginnt mit einer klassischen Naturklage und endet mit einem plötzlichen umgangssprachlichen Gefühlsausbruch. (IV,3:S.151) Der in der traditionellen Lyrik geläufige Umschlag von außen nach innen, von der Welt zum Ich wird dadurch überraschender und ausdrucksvoller.

Von allen Personen besitzt Hongniang die größte sprachliche Spannweite und Gewandtheit. In ihr spiegelt sich die thematische Spannung zwischen hoch und tief, zwischen Leidenschaft und Lebensnähe. Hongniang verwendet klassische Anspielungen in ironischen Umkehrungen, und schimpfen kann sie sowohl klassisch wie vulgär. Sexuelle Wortspiele beherrscht sie genauso souverän wie naturgetreue Imitationen des klassischen Liebesgeflüsters von Zhang Junrui und Yingying. Häufig wird der Rollentausch zwischen Herrschaft und Personal ins Sprachliche übertragen. So kritisiert Hongniang die Mutter im Ton eines hohen Richters mit klassischem Satzbau und konfuzianischen Zitaten, während diese wie eine gemeine Angeklagte in Gemeinsprache antwortet. (4,2:143-145)

Hongniangs Bildung ist mündlich durch ihren Umgang in einem vornehmen Haus erworben, Schriftzeichen beherrscht sie keine. Dieser Umstand wird genutzt für virtuose Sprachspiele. Da Hongniang nicht lesen kann, verlangt sie, daß ihr alle Briefe erklärt werden. (III,1:S.97f) So übersetzt ihr der junge Mann ein von Yingying verfasstes, klassisch verschlüsseltes Liebesgedicht. Wollte man dies in einer westlichen Sprache wiedergeben, müßte man zwischen Latein und Italienisch wechseln:

“Im Westzimmer weilend, in Erwartung des Mondes”

d.h. ich soll sie heute nacht bei Mondschein besuchen

“Halboffen die Tore im Wind”

d.h. sie macht mir die Tür auf

“Jenseits der Mauer bewegen sich Blumenschatten

Ich denke, ein Edler kommt”

d.h. ich soll über die Mauer springen (III,2)

Als das Rendezvous missglückt verfaßt Hongniang eine dritte parodistische Variante:

Du hast die”offenen Tore”

Im falschen Rhythmus gelesen

Ein Berg fällt auf deine Blumenschatten

Im Westzimmer dunkelt der Mond (III,3)

Die Sprachkunst des Westzimmers  hat die Entwicklung der Romanliteratur der Ming- und Qing-Zeit entscheidend beeinflußt. Dies wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhundert oft vergessen, als die Umgangssprache gesiegt hatte. Die Reformer der 4. Mai Bewegung kritisierten die klassischen Einschübe als tote Sprache und undemokratischen Hemmschuh. Daher schrieb der Schriftsteller Guo Moruo eine rein umgangssprachliche Version.

Jedoch ist der mühelose Sprachwechsel keine Schwäche, sondern eine besondere Stärke des Chinesischen. Allerdings hat die kommunistische Sprachpolitik hier stark reglementierend und einebnend gewirkt. So musste ein so bedeutender Schriftsteller wie Lao She nach 1949 aus seinen Romanen alle klassischen Wendungen, aber auch alle Dialektausdrücke ausmerzen. Dass ein gewisser künstlerischer Mischstil trotzdem auch im 20. Jahrhundert noch üblich ist, zeigen die Reden Mao Zedongs ebenso wie bühnenwirksame Sprachwechsel in Theater- und Fernsehstücken.

Vermittlung zwischen Autor und Publikum

Im Verlauf der Jahrhunderte entwickelte sich Hongniang von einer stummen Rolle zur vielseitigsten Kupplerin der chinesischen Literatur. Die Ehevermittlerin besaß im alten China eine wichtige Stellung, war doch eine ohne ihr Eingreifen geschlossene Ehe ungültig. Hongniang unterscheidet sich jedoch vom traditionellen Typus der raffinierten und geldgierigen Kupplerin, um die verschiedensten Rollen zu übernehmen. So ist sie auch Vermittlerin zwischen Autor und Publikum, der Zuschauer sieht die Personen mit ihren Augen. Ihre Schlüsselposition wird mehrfach bildhaft angedeutet. Als der junge Mann sich z.B. für das Treffen mit der Mutter schön macht und keinen Spiegel zur Hand hat, bittet er Hongniang, sein Äußeres kritisch zu prüfen (II,2:S.68) – ein Hinweis auf ihre Spiegelfunktion.

Auch die Botschaft des Stückes ist in ihren Mund gelegt. Der Schauplatz, der von Banditen umzingelte “Tempel zur Allgemeinen Rettung” kann als Bild der Welt gedeutet werden. Das Drama beginnt mit der Anrufung der Milchstraße, die im chinesischen Märchen zwei liebende Sterne trennt, aber einmal im Jahr wieder vereint. Dies ist eine kosmische Vorwegnahme des Grundthemas “Verbindung und Trennung”. Im Stück wird die Trennung durch die Mutter und das Mauermotiv, die Verbindung durch Hongniang symbolisiert.

Deren Wirken beschränkt sich nicht auf Zhang Junrui und Yingying, sondern umfaßt die ganze Welt. So bezeichnet sie sich auch einmal als Liebesgöttin (II,1:S.96). In der Tang-zeitlichen Erzählung breitet Hongniang für Zhang Junrui und Yingying die Bettdecke aus. Im Westzimmer tut sie dies für alle Liebenden. Wenn am Schluss der Autor vor sein Publikum tritt und erklärt:

yuan pu tianxia youqingde dou chengle juanshu

愿普天下有情的都成了眷属

Ich wünsche, dass alle Liebenden dieser Welt sich vereinen (V,4)

kommen für einen Augenblick Autor und Hongniang zur Deckung.