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Göttin, Tigerin, überlegene Dienerin –
Frauen in der chinesischen Literatur
神仙,母老虎,反僕為主– 中國文學里的婦女
Ich möchte mit Ihnen ein Rätsel betrachten, das mich schon lange beschäftigt: Die Frauen im alten China gelten allgemein als besonders unterdrückt. Auch in den chinesischen Klassikern werden sie als dem Mann untergeordnet betrachtet. Aber in chinesischen Erzählungen sind die Frauen den Männern überlegen. Sie stellen die traditionellen Rollen auf den Kopf und rütteln an der gesellschaftlichen Ordnung.
Die Frau als Dienerin
Konfuzianer betrachteten die Frau als dem Manne untergeordnet, und dies wurde seit der Han-Dynastie (206 v.u.Z. – 220 n.u.Z.)zu einem kosmischen Gesetz. In dem Han-zeitlichen Lexikon Baihutong 白虎通 heißt es in dem Abschnitt über Frauen, diese hätten keine gesellschaftlichen Aufgaben, sondern nur häusliche Pflichten:
Die Frauen haben nicht die Aufgabe, die Regierung und das Volk zu lenken. Sie sollen sich unterordnen und ihre Aufgabe besteht in der Versorgung (der Familie) und Ernährung.
Es entwickelte sich eine doppelte Moral, die die Männer bevorzugte. So finden sich schon in den Kommentaren des Zhouyi 周易(Buch der Wandlungen) und des Shijing 诗经 (Buch der Lieder) Belege, nach denen eine Ehe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau als günstig und erfreulich galt, umgekehrt die Ehe zwischen einer alten Frau und einem jungen Mann aber als peinlich und schändlich.
Weniger bekannt ist, daß auch Buddhisten und Daoisten keine hohe Meinung von den Frauen hatten. Nach buddhistischen Schriften zu schließen, setzte sich die Ungleichbehandlung sogar im Jenseits fort: Hatten Männer Sünden begangen, so konnten sie diese in der nächsten Existenz durch ein keusches Mönchsleben abbüßen. Frauen dagegen wurden zur Strafe als Prostituierte wiedergeboren, um im Dienste der Männer ihre Sünden abzuwaschen.
Aus der Zeit der Drei Reiche 三国 (220-589) stammt der berühmte Satz qizi ru yifu 妻子如衣服, “Frauen kann man wechseln wie Kleider”. Als der Held Liu Bei 刘备sich entscheiden muß, ob er entweder seine zwei Frauen oder seine zwei Blutsbrüder retten soll, wählt er ohne lange Überlegung die zweite Alternative mit der Begründung:
Brüder sind wie Hände und Füße, Frauen kann man wechseln wie Kleider (xiongdi ru shouzu, qizi ru yifu 兄弟如手足,妻子如衣服) Wenn ein Kleid ruiniert ist, kann man es ersetzen. Aber wenn eine Hand oder ein Fuß abgeschlagen ist, ist das unwiederbringlich.
(Sanguo yanyi, 三国演义 Kap. 15)
Dieser und andere Sprüche wie da zhangfu he huan wu qi 大丈夫何患无妻 “Ein richtiger Mann findet überall Frauen”, werden bis heute von manchen chinesischen Männern zitiert, wenn ihre Frauen nicht dabei sind.
Bis heute sichtbares Symbol für die niedrige Stellung der chinesischen Frauen ist die chinesische Schrift. Nach Zählungen eines Qing-Zeitlichen Gelehrten gibt es nicht weniger als 168 chinesische Schriftzeichen mit dem Radikal “Frau” (女), die eine abwertende Bedeutung haben, etwa nu 奴 “Sklave”, jian 奸 “Ehebruch”, du 妒 “Eifersucht”, wang 妄 “Unverschämtheit”, yao 妖 “Monster”.
Aber es gab auch Gegenstimmen. Charakteristisch für die chinesische Erzähltradition von der Zeit der Sechs Dynastien (220-589) bis heute ist die dominierende Stellung der Frauen. Sie sind nicht unbedingt sympathischer als die Männer, aber klüger, mutiger und wortgewandter. Sie beherrschen die literarische Szene und alles Licht fällt auf sie. Ich möchte dies illustrieren an fünf repräsentativen Frauentypen: junges Mädchen, Ehefrau, Geschiedene, Heldin und Intellektuelle.
Das junge Mädchen
Schon Menzius hatte junge Leute getadelt, die zu nächtlichen Stelldicheins über Mauern kletterten und hatte strengen Abstand zwischen den Geschlechtern gefordert (nan nü you bie 男女有别). Die Erzähler dagegen schilderten mit Vorliebe voreheliche Liebeserlebnisse und betonten die freie Partnerwahl der Mädchen.
In den frühesten chinesischen Liebesgeschichten aus der Zeit der Sechs Dynastien besuchen Göttinnen, Tierfrauen oder schöne Gespenster die Männer, beglücken sie für eine kurze Zeit, um sie dann wieder zu verlassen. In späteren Erzählungen werden die Dämoninnen immer menschlicher, ohne jedoch ihre Überlegenheit zu verlieren. Die Tang-zeitlichen Liebesgeschichten (613 – 907) schildern meist gesellschaftlich ungleiche Beziehungen zwischen reichen Fürstensöhnen und wenig geachteten Kurtisanen. Aber die Aufmerksamkeit konzentriert sich nicht auf die Sieger, sondern auf die Unterlegenen. Obwohl die Liebesgeschichten meist traurig enden, erscheinen die Mädchen geistig und charakterlich den Männern überlegen, etwa die Füchsin Fräulein Ren (“Renshi Zhuan” 任氏传), das Mädchen Yingying 莺莺(“Huizhen Ji” 会真记) oder die Prostituierte Huo Xiaoyu (“Huo Xiaoyu” 霍小玉).
In den Ming-zeitlichen Liebesgeschichten (1368-1644) wurde die Forderung nach freier Sexualität deutlicher vorgetragen als je zuvor. Seit der Song-Zeit (960 – 1279) hatte man mit der weiblichen Keuschheit einen wahren Kult getrieben. Sprichwörtlich wurde das Diktum des Philosophen Cheng Yi: esi shi xiao, shi jie shi da 饿死事小, 失节事大 (Die Keuschheit ist wichtiger als das Leben). Während die Frauen der Tang-Zeit noch reisen und auf Jagd gehen konnten, sollten sie jetzt das Haus möglichst nicht verlassen, und man band ihnen die Füße.
Aber Erzähler wie Feng Menglong 冯梦龙 oder Ling Mengchu 凌蒙初stellten die freie Liebe in den Mittelpunkt und zeigten ein verstärktes Interesse an Frauen. Dies hing wohl auch damit zusammen, daß Anfang der Ming – Dynastie (1368 – 1644) immer mehr Frauen lesen und schreiben konnten. Für die Erzähler stellten sie ein neues Lesepublikum dar, auf dessen Wünsche man sich einstellte. In Ming-zeitlichen Erzählungen begehen junge Leute lieber Selbstmord, als daß sie sich von ihren Eltern in eine Ehe zwingen lassen. Die Proteste werden immer den Mädchen in den Mund gelegt, die weitaus aktiver sind als die vorsichtigeren Männer. So kommt in einer Erzählung von Ling Mengchu das Mädchen heimlich nachts zu ihrem Freund und sagt freimütig:
Heute werde ich mit Ihnen das Kissen teilen und mit Ihnen die Nacht verbringen.
(Pai’an jingqi 拍案惊奇Kap. 23)
Als der ängstliche junge Mann moralische Bedenken hat und ablehnen möchte, wirft sie ihm Feigheit vor und droht, ihn öffentlich wegen Vergewaltigung anzuklagen, worauf er sich wohl oder übel ihren Wünschen fügen muß. Junge Mädchen, die so agierten, wurden in den Erzählungen nicht als lasterhaft, sondern als bewundernswert dargestellt. Dies ist das Gegenteil der Forderung des Neokonfuzianers Zhu Xi 朱熹, man müsse im Dienste einer höheren Moral seine Begierden abtöten. (cun tianli, mie renyu 存天理灭人欲). Ling Mengchu hat in einer Erzählung denn auch Zhu Xi als Heuchler und Egoisten dargestellt.
Ein Vergleich mit westlichen Liebesgeschichten macht die starke Position chinesischer Frauen besonders deutlich. Im Westen sind beide Partner gleichwertig, etwa “Romeo und Julia”. Dagegen herrscht in chinesischen Liebesgeschichten fast immer ein Ungleichgewicht. Westliche Leser haben sich oft darüber gewundert, wieso sich so kluge und temperamentvolle Mädchen in so schwache Männer verlieben können. Für westliche Leser überraschend ist auch die Tatsache, daß in chinesischen Liebesgeschichten die Werbung meist von den Mädchen ausgeht, und dies keineswegs nur bei Kurtisanen, sondern auch in bürgerlichen Verhältnissen. Die Erzählungen zeigen eine neue Sensibilität und Liebesauffassung, die die Gefühle der Frauen höher wertet als die traditionelle Keuschheit.
Meiner Meinung spielen hier ausländische Kultureinflüsse eine Rolle. China stand in ständigem Kontakt mit nicht-chinesischen Völkern, bei denen freiere Heirats- und Ehesitten herrschten. In historischen Quellen der Sechs Dynastien wird berichtet, daß bei manchen Fremdvölkern die Werbung von den Mädchen ausging:
Das Mädchen erklärt selbst seine Liebe
Und wirft sich dem Mann an die Brust
Dagegen heißt es im konfuzianischen Li Ji 礼记 ausdrücklich:
(Bei der Ehezeremonie) sollte vom Mann die Initiative ausgehen und nicht von der Frau.
Die Beherrschung der Gefühle wurde als Zeichen von Kultur betrachtet, das Chinesen von Barbaren unterschied. Dazu wieder das Li Ji:
Seinen Gefühlsregungen freien Lauf zu lassen bedeutet das Verhalten (dao 道 ) der Barbaren nachahmen.
Daher betrachteten Konfuzianer es als kulturellen Fortschritt, daß die Ehe von den Eltern und der Ehevermittlerin arrangiert wurde.
Aber während chinesische Philosophen eine Kontrolle und Mäßigung der Gefühle verlangten, vertraten Künstler oft das Gegenteil. So gibt es in der chinesischen Ästhetik schon früh die Auffassung, daß schöne Musik, Dichtung und Liebe die inländischen Grenzen sprengen, daß sie wild, leidenschaftlich und im positiven Sinn “barbarisch” sein sollte. Besonders chinesische Liebesgeschichten folgten gern dem freien Barbaren-Modell, bei dem die Werbung von den Mädchen ausging. Angesichts der konfuzianischen Prüderie und Sittenstrenge wurde fremdländische Leidenschaft zu einem Ideal, das bis heute auf chinesische Schriftsteller und Leser seine Faszination ausübt.
Die Ehefrau
In den Ehegeschichten verschiebt sich das Ungleichgewicht noch stärker zugunsten der Frau. Die “Angst vor der Ehefrau” (pa laopo 怕老婆) ist ein Urmotiv der chinesischen Literatur, das bis heute beliebt ist.In der Tang-Zeit nannte ein Beamter, der von seinen Kollegen als Pantoffelheld verspottet wurde, dafür drei zwingende Gründe:
Kurz nach der Heirat ist sie schön wie eine Bodhisatva, und wer hat keine Angst vor den Heiligen? Nach der Geburt der Kinder ist sie wie eine Tigerin, und wer hat nicht Angst vor Tigern? Im Alter sieht sie aus wie ein höllischer Dämon, und wer hat keine Angst vor Dämonen? Daher ist die Angst vor der Ehefrau etwas völlig Natürliches. Die Zuhörer waren alle überzeugt.
Das westliche Pendant zu der chinesischen “Tigerin” ist der Hausdrachen oder die Xantippe. Aber im Vergleich zu Xantippe sind die chinesischen Frauen wilder und kämpferischer. Schon durch lautes Schimpfen gelingt es ihnen, die Männer zum Einlenken zu zwingen, weil diese Angst haben, vor der Nachbarschaft ihr Gesicht zu verlieren und ihrer Beamten-Karriere zu schaden. Besonders peinlich ist es, wenn die Frauen drohen, sich aufzuhängen oder Nonne zu werden. Die Frauen kämpfen aber nicht nur verbal, sie schlagen und quälen auch ihre Männer und lassen sie oft die ganze Hausarbeit machen.
In den Ming- und Qingzeitlichen Erzählungen wurden die Frauen noch radikaler und forderten gleiche Rechte wie die Männer: So verlangten sie zum Beispiel zuerst einmal junge hübsche Liebhaber, bevor sie ihren Männern erlaubten, sich Konkubinen zu nehmen. Es wurden “Frauenreiche” beschrieben, in denen die Männer den Frauen gehorchen mußten. Einige Schriftsteller setzten sich auch für die Einehe ein. Pu Songling hat vor allem auch die heilsame Wirkung der “Tigerinnen” beschrieben. So gelingt es in manchen Geschichten den Ehefrauen mit ihren Kampftechniken, ihre asozialen und gewalttätigen Männer wieder zum menschlichen Umgang fähig zu machen.
Neu seit der Ming-Zeit ist die Darstellung sado-masochistischer Verhältnisse und der Blick in seelische Abgründe. Häufig mißhandeln die Frauen ihre Ehemänner, was mit sadistischen Einzelheiten geschildert wird. Manche Männer werden durch die Beschimpfungen und Quälereien sogar impotent. Aber trotz aller Grausamkeit werden die Handlungen der Frauen oft menschlich verständlich gemacht. Als Wurzel des Übels erweist sich das Konkubinat. So zeigt der Verlauf vieler Erzählungen, daß Konkubinen, vor allem wenn sie Söhne gebären, oft die erste Ehefrau verdrängen. Die Angststräume der Ehefrauen machen deutlich, daß die Frauen durch diese sehr reale Existenzbedrohung außer sich geraten, alle Beherrschung verlieren und Verbrechen begehen.
Für untreue Frauen zeigen die Erzähler dagegen sehr viel weniger Verständnis. Grund ist wohl die Tatsache, daß das Thema Ehebruch in China ein gefährliches Spiel mit dem Feuer war. Unordnung in der Familie führte nach konfuzianischer Auffassung zu Chaos im Staat und wurde vor Gericht sogar mit dem Tode bestraft. In den meisten Erzählungen sind außereheliche Verhältnisse denn auch als Verbrechen dargestellt, wobei die Ehebrecherin als Hauptschuldige erscheint. In Erzählungen dieses Typs wird der Leser oft gleich durch das Eingangsgedicht gegen die Protagonistin eingenommen:
Die Zunge im Maul der Pythonschlange
Der Stachel am Schwanz der Wespe
Sind nicht so giftig
Wie das Herz der Frauen.
Ehebrecherinnen werden meist gleichzeitig als Mörderinnen dargestellt und am Schluß von ihren Ehemännern oder ihren Liebhabern umgebracht – und zwar mit moralischer Billigung des Autors. Nur wenige Erzähler haben sich etwas feinfühliger in die Lage der Frauen versetzt, z.B. Feng Menglong in seiner Erzählung “Das Perlenhemd” (“Zhushan” 珠衫). Man kann daraus ermessen,wie groß der innere und äußere Druck gewesen sein muß, mit dem die Autoren zu kämpfen hatten, wenn sie sich an ein so heikles Thema wie die verständnisvolle Darstellung einer untreuen Frau wagten. Die vielen Tabus, die solche Schilderungen im alten China umgaben, sind möglicherweise ein Grund für die große Beliebtheit des Themas in der Literatur des 20. Und 21. Jahrhunderts.
Insgesamt besitzt der Typus der dominierenden Ehefrau einen zentralen Platz in der chinesischen Kultur. Im Westen ist der Hausdrachen vorwiegend eine Witzfigur. In China dagegen werden die “Tigerinnen” weniger mit Herablassung als mit einer Mischung von Grauen, Mitgefühl und Bewunderung dargestellt. Sie spielen eine Hauptrolle, und in vielen Erzählungen wechseln sie von einer komischen Figur ins Charakterfach.
Während deutsche Pantoffelhelden sich nur ungern dazu bekennen, ist in China die “Angst vor der Ehefrau” kein Tabu, sondern kommt in den besten Kreisen vor. Kaiser, Generäle und Dichter, Philosophen wie Konfuzius und Politiker wie Mao Zedong, von ihnen allen wird berichtet, daß sie Angst vor ihren Frauen hatten. In China ist das Motiv zentraler als im Westen und besitzt eine größere Lebensnähe. Auch heute, wenn sich Männer von einer Geselligkeit frühzeitig verabschieden, benutzen sie zur Entschuldigung häufig das Wortspiel “qiguanyan”, das sowohl “Luftröhrenentzündung” (氣管炎) wie “Frauen-Herrschaft” (妻管嚴) bedeutet. Auch heute erzählen Chinesen gern Geschichten über “Tigerinnen” und vertreten die Überzeugung, daß eine glückliche Ehe nur mit einer energischen Frau möglich ist.
Die Geschiedene
Im alten China ging die Ehescheidung nach konfuzianischer Rechtsauffassung ziemlich einseitig vom Mann aus. Nach den Erzählungen zu schließen, waren die Gewichte nicht ganz so ungleich verteilt. Die Texte geben kulturhistorisch interessante Zusatzinformationen über Scheidungsformalitäten in verschiedenen Dynastien und über sich langsam entwickelnde größere Freiheiten für Frauen.
Der vielleicht früheste Scheidungsbrief findet sich in dem buddhistischen Werk “Biographien großer Mönche” (Gaoseng Zhuan 高僧转von Hui Jiao 慧皎 (497-554): Ein Mann schreibt an seine Frau:
Die Menschenherzen sind verschieden wie ihre Gesichter. Du liebst die Religion nicht. Genauso mag ich das weltliche Leben nicht. Frau Yang, trennen wir uns auf immer! Eine 10 000 Zeitalter dauernde Liebesbindung ist jetzt zuende! (…) Wer in der Welt lebt, muß mit der Zeit gehen. Du bist körperlich und charakterlich bestens entwickelt, suche dir rasch eine neue Liebe. Gräme dich nicht um einen Mönch und verpasse nicht deine besten Jahre!
Wir wissen nicht, ob dieser Mönch wirklich so selbstlos war wie er sich den Anschein gibt. In Tang-zeitlichen Texten wird der gleiche Sachverhalt weniger brutal, sondern eleganter und blumiger formuliert. Neu ist, daß der Mann eine gewisse Versorgung der Frau garantiert. Auch hier wird ein neuer, hochangesehender Ehemann erwähnt, den die Ehefrau nun angeblich heiraten könnte.
Aus Tang-zeitlichen Texten geht hervor, daß die Möglichkeit, einer unerfreulichen Ehe zu entrinnen, auch den Frauen offenstand. Die vielleicht interessanteste Darstellung einer Scheidung ist die Verserzählung “Die redegewandte Li Cuilian” (kuaizui Li Cuilian 快嘴李翠莲aus der frühen Ming-Zeit. Li Cuilians Problem ist, daß sie einen lebhaften Geist besitzt und allzu gern diskutiert. Als sie wegen ihrer raschen Zunge den ganzen Haushalt gegen sich hat, schlägt sie von sich aus die Scheidung vor. Im Unterschied zu Tang-zeitlichen Texten kann die Braut die gesamte Mitgift mitnehmen.:
Bring rasch Papier und Tusche, Pinsel und Tuschstein
Und schreibt mir jetzt den Scheidungsbrief (…)
Heute schreibt den Scheidungsbrief
Ich nehme die Mitgift, ärgert euch nicht
Und zwischen den Fingerabdrücken der Satz:
“Wir wollen uns niemals wiedersehn”
Die Liebe zuende, Gefühle zerbrochen
Schreibt noch einen Schwur dazu
“Wenn wir uns in der Hölle wiedersehn
Drehn wir uns um und schaun uns nicht an!”
Der Schwur “Wir wollen uns niemals wiedersehen” ist offensichtlich eine übliche juristische Scheidungsformel, die auch in anderen Erzählungen auftaucht.
Zu Hause zeigt sich, daß auch ihre Eltern ihr Vorwürfe machen. Von allen verlassen, entschließt sie sich, Nonne zu werden. Es ist nicht so, daß sie wirklich die Berufung zur Weltentsagung fühlt. Es ist vielmehr der letzte Ausweg. Trotzdem klingt aus ihren Schlußworten kein geringes Selbstbewußtsein:
Eure Tochter hat das Schicksal, einsam zu sein
Dumm und bäurisch war ihr Mann (…)
Ich hoffte zu Hause Ruhe zu finden. Wer hätte
gedacht
Daß auch Vater und Mutter gegen mich sind (…)
Ich schneide mein Haar und werde Nonne (…)
Doch wie die Alten sagen:
“Hier keine Heimat, doch anderswo Heimat” (…)
Ich schweife umher
Ohne Sorgen und frei! (…)
Die sich in den Erzählungen spiegelnde größere Selbständigkeit der Frauen hing nicht zuletzt mit der Bedeutung der buddhistischen Klöster zusammen. Insbesondere in der Ming-Zeit traten viele Frauen als Nonnen in Klöster ein, wodurch sie mehr Freiheiten gewannen. In diese Zeit fällt auch die Umwandlung ursprünglich männlicher Heiliger in weibliche Bodhisatvas. In der Literatur beschrieb man Frauen, die freiwillig auf Heirat verzichteten. Trotzdem erscheint auch in den Erzählungen die Lage geschiedener Frauen alles andere als beneidenswert.
Die Generalin
Frauen in der chinesischen Literatur sind nicht nur im Hause überlegen, d.h. in Liebe und Ehe. Sie brechen manchmal auch in die Domäne der Männer ein. In den frühen Dynastiegeschichten wurden Heldinnen als übles Omen betrachtet. Aber in der Literatur galten sie nicht als abartig, sondern als außergewöhnlich. Beliebt bis auf den heutigen Tag ist die Sage von Mulan 木兰, die statt ihres Vaters in den Krieg zog. In der Tang-Zeit wurde der literarische Typus der Kampf-Nonne ausgebildet: Bekannte Beispiele sind Hongxian 红线, Nie Yinniang 聂隐娘und Xie Xiao’e 谢小娥, gefolgt von einer langen Reihe von Heldinnen in allen Dynastien. Im allgemeinen ähneln die Kampf-Nonnen männlichen Helden, übertreffen diese jedoch durch Wagemut und Intelligenz. Oft als Männer verkleidet, agieren sie im Dienst einer Mission, die meist darin besteht, eine große Ungerechtigkeit oder einen Mord zu rächen. Ebenfalls parallel zu den männlichen Helden sind sie uninteressiert an Liebe, Ehe und Familie. Manche töten sogar ihre Kinder, um ohne Bindung und frei für ihre Aufgabe zu sein.
Eine Sonderrolle spielen die Heldinnen von Pu Songling 蒲松龄 (1640-1715). Aus dem Konflikt zwischen gesellschaftlichen Konventionen und eigenen Überzeugungen entstehen Verhaltensweisen, die keine bloße Nachahmung männlicher Werte sind. So ist die Titelheldin der Erzählung “Heldenmädchen” (Xianü 侠女) anders als andere Frauen, aber trotzdem kein Mannweib. Wie ein männlicher Held schlägt sie dem Mörder ihres Vaters den Kopf ab und bringt auch lässig einen Playboy um, der es wagt, ein Auge auf sie zu werfen. Andererseits pflegt sie fürsorglich eine alte, alleinstehende Nachbarin. Allerdings sind auch ihre “weiblichen” Verhaltensweisen einigermaßen unkonventionell: Sie verführt den Sohn der Nachbarin und gebiert ein Kind, das sie aber nicht selbst aufzieht, sondern der Nachbarin und deren Sohn zwecks Altersversorgung überläßt. Sie will keine Ehe, aber sie ist auch nicht ausschließlich Werkzeug ihrer Mission. Als Grenzgängerin zwischen “Männlich” und “Weiblich” beschreitet sie neue Wege, die ihren eigenen ungewöhnlichen Anlagen entsprechen.
Im Vergleich zu den westlichen Amazonen spielen Heldinnen in der chinesischen Literatur eine besonders wichtige Rolle. Auf dem Theater haben sie sogar ein spezielles Rollenfach, die “Kämpferin zu Pferde” (daomadan, wudan 刀马旦,武旦). Sie sind kein rein literarisches Phänomen: Ausgrabungsfunde haben gezeigt, daß es in der Frühzeit Chinas Herrscherinnen und Generalinnen gab. In Geheimgesellschaften quer durch die Jahrhunderte tauchen Heldinnen auf, und auch in der Frühphase der kommunistischen Armee gab es noch Generalinnen.Heutzutage macht ein neuer Typus von “Generalinnen” (nüjiang 女将) von sich reden als Chefinnen von Industrieunternehmen in Taiwan, Hongkong, Singapur und der VR China.
Die Intellektuelle
In den Klassikern wurden Künstlerinnen und weibliche Intellektuelle wie im Westen als “krähende Hennen” bezeichnet, aber überdies noch für den Untergang einer Familie oder sogar einer Dynastie verantwortlich gemacht. Die früheste Quelle findet sich im Klassiker für Geschichte (Shujing 书经):
Die Henne sagt nicht den Morgen an. Wenn die Henne morgens kräht, ist das ein Zeichen für den Niedergang des Staates.
Berühmt berüchtigt wurde der konfuzianische Spruch: nüzi wu cai bian shi de, 女子无才便是德, “Keine Talente zu haben, ist für Frauen eine Tugend”.
Unklar ist bislang noch, wieweit es in der Praxis auch im traditionellen China möglich war, als weibliche Gelehrte oder Künstlerinnen hervorzutreten. Zumindest offiziell war der Pinsel den Männern vorbehalten, den Frauen blieb nur die Nähnadel. Die Song-zeitliche Dichterin Zhu Shuzhen 朱淑真schrieb in dem Gedicht “Selbstvorwürfe” (zize 自责):
Wenn Frauen dichten
Ist das Verbrechen
Ist laszive Musik
Denn Pinsel und Tuschstein
Sind mir nicht bestimmt
Einzig die Nadel zum Sticken
Bringt mir Lob und Verdienst.
Wurden Frauengedichte veröffentlicht, erschienen sie in den offiziellen Sammlungen nicht zusammen mit männlichen Dichtern, sondern zwischen den wenig angesehenen Mönchen und Prostituierten. Der Song-zeitliche Gelehrte Zhou Lianggong 周亮工 schrieb dazu:
Wenn in einem großen Clan unglücklicherweise ein paar Gedichte (von Frauen) nach draußen gelangen, dann werden sie eingeordnet hinter den Mönchen und vor den Prostituierten, ist das nicht blamabel?
Viele Dichterinnen sahen sich daher gezwungen, ihre Gedichte zu verbrennen oder höchstens anonym bzw. unter dem Namen ihres Mannes zu veröffentlichen.
Dagegen ist in chinesischen Erzählungen weibliche Intelligenz häufiger dargestellt. Dies gilt nicht nur für die Literatur der Gebildeten, sondern auch für die Volksliteratur. Während in westlichen Märchen häufig der Typus der “dummen Gans” oder “dummen Ehefrau” auftaucht, gibt es in China viel mehr Geschichten über den “dummen Ehemann” (sha guye 傻姑爷) und die “kluge Frau” (qiaonü 巧女). Der chinesische Komparatist Ding Naitong 丁乃通 schreibt dazu:
Die Leute sind oft der Ansicht, daß in der alten chinesischen Gesellschaft traditionell die Männer im Zentrum standen. Aber im Vergleich mit anderen Ländern kann man erkennen, daß es in China besonders viele Geschichten über kluge Frauen gibt. Die dumme Ehefrau gibt es natürlich auch, aber sie wird nur als Kontrast zu der klugen Frau erwähnt. Der Ehemann hat nur selten die Oberhand und wird überdies zu Hause oft von seiner Ehefrau unterdrückt.
In Pu Songlings Liaozhai zhiyi 聊斋志异 treten besonders viele Künstlerinnen und Intellektuelle auf, etwa die Dichterin Liansuo, Malerinnen, weibliche Gelehrte oder die Ärztin Jiao Na, die mit ihrem Operationsmesser einem Mann ein Geschwür herausschneidet. Die vielleicht eindrucksvollste Erzählung ist “Frau Yan” (Yanshi 颜氏). Wie das “Heldenmädchen” ist auch sie eine unkonventionelle Mischung von Männlich und Weiblich. Die übliche Liebeskonstellation “Begabter Mann und schönes Mädchen” ist umgekehrt: Hier ist der Mann die Schönheit und die Frau das Genie. Frau Yan ist eine Intellektuelle, die ihr Vater so charakterisiert:
Ich habe eine Gelehrte zur Tochter. Wie schade, daß sie kein Mann ist!
Sie verliebt sich in die schöne Kalligraphie eines jungen Mannes und wählt ihn zum Ehemann. Bald muß sie jedoch entdecken, daß er geistig wenig zu bieten hat. Nachdem ihr Mann trotz Nachhilfe von ihrer Seite immer wieder in den Beamtenexamen scheitert, verkleidet sie sich als Mann, reist als “Bruder” ihres Mannes in die Hauptstadt und besteht das Examen mit Glanz. Sie steigt bis zum Provinzgouverneur und Zensor auf, zieht sich dann aber frühzeitig zusammen mit ihrem Mann zurück. Da die Frau keine Kinder bekommt, kauft sie ihm notgedrungen eine Nebenfrau, bemerkt jedoch:
Wenn jemand eine hohe Stellung erlangt hat, dann kauft er sich regelmäßig eine schöne Nebenfrau zu seiner Bedienung. Ich habe nun zehn Jahre lang im öffentlichen Leben gestanden und bin trotzdem allein. Warum bist du so vom Glück begünstigt, daß du, ohne etwas getan zu haben, diese schöne Nebenfrau genießen kannst?”
Ihr Gatte antwortete: “Nimm dir dreißig Männer als Konkubinen, wie die Prinzessin der Südlichen Dynastien!”
Aus Sicht der Frau ist der Kauf einer Nebenfrau, um die Ahnenreihe zu sichern, eine höchst ungerechte Zurücksetzung. Trotz geistiger Überlegenheit bleiben die Rollen ungleich verteilt. Das Besondere der Geschichte ist jedoch die Art, wie das ungleiche Paar trotz aller Konflikte eine recht glückliche Ehe führt. Grund ist ein beidseitiger Humor und eine Toleranz, die keineswegs mühelos erworben ist, sondern sich in immer neuen Proben bewähren muß. In einer griechischen Sage besaßen die ersten Menschen ursprünglich eine vollendete Kugelgestalt, die sich erst später zum Schaden der Menschheit in die zwei Hälften Mann und Frau teilte. In “Frau Yan” und ihrem Mann nähern sich die beiden Hälften wieder. Während die Frau in ursprünglich den Männern vorbehaltene Bereiche dringt, geschieht bei dem Mann das Umgekehrte. Neu bei Pu Songling ist, daß er dies nicht als Perversion darstellt, sondern als einen Prozeß, der beide Seiten bereichert und zu sich selbst finden läßt.
Einige Überlegungen
Wie läßt sich das Rätsel erklären, daß Frauen in der chinesischen Literatur so stark sind? In manchen Erzählungen ist der Typus der “überlegenen Frau” sicherlich ein literarisches Wunschbild. Weil Frauen in der unterlegenen Position waren, schufen die Schriftsteller in der Fantasie eine bessere Welt, in der die Rollen umgekehrt wurden. Die Erzähler waren selbst oft Randexistenzen, die gesellschaftlich wenig geachtet waren. Es liegt nahe, daß sie sich in die Frauen versetzten und sich in ihnen wiedererkannten. Auch lieben es die Schriftsteller, den Leser zu überraschen und zu schockieren. Und wie ginge dies besser als durch eine Umkehrung des Gewohnten?
Zu erwägen sind auch gesellschaftliche Gründe. Literatur ist mit einer Spiegelung in einem See vergleichbar: Sie intensiviert die Realität, stellt sie vielleicht auf den Kopf, aber ist kaum denkbar ohne sie. Am besten läßt sich dies durch das auch im Westen bekannte Syndrom der “überlegenen Dienerin” beschreiben. Wo viel Druck ist auch viel Widerstand. Vielleicht gerade weil die chinesischen Frauen benachteiligt waren, hatten sie weniger zu verlieren und kannten weniger Tabus als die Männer, die auf ihre Beamtenstellung Rücksicht nehmen mußten.
Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, daß chinesische Frauen trotz ihrer gesellschaftlich niedrigen Stellung über besondere Stärken verfügen. So befand James Legge, Missionar und Übersetzer der chinesischen Klassiker:
Notwithstanding the low estimation in which women’s intellect and character were held, the mind of the wife often was and is stronger than her husband’s, and her virtue greater.
Pointiert gesagt war die Unterordnung der Frau ein Idealbild, das in der Wirklichkeit nur selten erreicht und oft sogar ins Gegenteil verkehrt wurde. Die Erzählungen zeigen den alten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen der patriarchalischen konfuzianischen Ethik und dem ganz anders verlaufenden häuslichen Alltag, wo häufig die Frauen das Sagen hatten.
Aber auch wenn die Stärke der Frauen literarisch überhöht wurde, steht doch fest, daß das Thema “Frau” in der chinesischen Literatur Wurzeln faßte und eine geistige Realität darstellte.Dies ist eine kulturspezifische Erscheinung, die sich im Westen in dieser Brisanz nicht findet. Die Erzähler stellten die Hierarchien von jun-chen 君-臣 (Herrscher-Untertan), fu-zi 父-子 (Vater-Sohn), fu-qi 夫-妻(Mann-Frau) in Frage und rüttelten damit an den Fundamenten der Gesellschaft. Sie vertraten ein neues Wertesystem, das die persönlichen Gefühle und das persönliche Glück höher wertete als die traditionelle Gesellschaftsmoral. Die Unterminierung der herrschenden Ideologie geschah zwar nur indirekt und unter dem Deckmantel amüsanter, spannender Geschichten. Aber chinesische Regierungen betrachteten dies als besonders gefährlich und reagierten ensprechend allergisch. Erzählungen wurden häufig indiziert und ihr Besitz sogar mit dem Tode bestraft.
Der frei nach Kant formulierte Satz: “Feminismus ist die Vision, die allen anderen Visionen aus ihren Ansätzen heraus verhilft” läßt sich – ins Literarische transponiert – auch auf China anwenden. Gerade die Frauen wirkten in den Erzählungen immer wieder als Katalysator für gesellschaftlichen Protest und für neue Ideen.