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Die chinesische Bezeichnung für Motiv, nämlich muti (wörtl. Mutter-Thema) stammt ebenso wie die neuere chinesische Motivforschung aus dem Westen. Jedoch gibt es die ihr verwandte Zitatforschung (kaoju, kaozheng) in China schon seit vielen Jahrhunderten. Da Zitate und Anspielungen (diangu) in der chinesischen Prosa und Lyrik eine große Rolle spielten, betrachteten es viele Kommentatoren als eine ihrer Hauptaufgaben, deren jeweilige Quellen zu entdecken und durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Wenn sich diese Kommentare auch meist auf das Aneinanderreihen von Parallelzitaten beschränken, bilden sie doch eine reiche Materialsammlung für neuere Motivforschungen und werden auch in Guan ausgiebig benutzt.
Der Weg zur chinesischen Motivforschung führt also notwendig über das Zitat. Da dieses nun auch in der westlichen Literaturkritik des 20. Jahrhunderts eine beherrschende Rolle spielt, möchte ich die westliche Zitatforschung in meine Darstellung miteinbeziehen. Zitat und Motiv werden im Westen im allgemeinen nicht miteinander verbunden, in China bestehen jedoch enge Beziehungen. Der Unterschied zwischen traditioneller chinesischer Zitatforschung und neuerer Motivforschung scheint mir ein Unterschied des Blickpunktes und der Gewichtung zu sein: In traditionellen chinesischen Kommentatoren liegt der Hauptakzent auf dem Historischen; zu einem Bild, einer rhetorischen Figur, oft sogar zu einem einzigen Schriftzeichen werden unter genauer Autor- und Titelangabe die Quellen“ angeführt; inhaltliche Betrachtungen folgen erst an zweiter Stelle. Bei der Motivforschung ist es dagegen umgekehrt, der Schwerpunkt liegt auf dem Inhaltlichen; selbst bei historischen Motivforschungen geht es weniger um exakte Quellenangaben, als um die Verwandlungen eines Motivs in verschiedenen Kontexten. In der Sache überschneiden sich beide Bereiche: Dieselben Bilder, Bild- und Erzählfolgen, die traditionelle Kommentatoren hauptsächlich auf ihre Quellen hin erforschten, werden von neueren Forschern als „Motive“ (muti) behandelt.
Das Zitat in China und im Westen
Sinologen erklären gern, einer der größten Unterschiede zwischen chinesischer und westlicher Literatur sei der Gebrauch von Zitaten: Während man im Westen häufiges Zitieren als Zeichen mangelnder Originalität betrachte, beweise dies in China höchste Kultur. Im folgenden möchte ich diese Frage von der chinesischen und von der westlichen Zitat-Geschichte her untersuchen.
CHINESISCHE ZITAT-GESCHICHTE
In China bildete das kindliche Auswendiglernen der Klassiker die Grundlage für die kunstvolle Verwendung von Zitaten. Vom Auswendiglernen gelangte man zu freieren Imitationen und schließlich zum raffinierten Zitatenspiel, womit man seine Prüfer in den Beamtenexamen und seine Vorgesetzten beeindrucken konnte. In Biographien berühmter Chinesen wird gern berichtet, wie diese als kleine dreijährige Wunderkinder zu allseitigem Erstaunen klassische Texte rezitierten und bald danach selbst verfaßten. Wenn dies auch nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, wirft es doch Licht auf die antiken Erziehungsideale.
Von der Zhou-Zeit bis zum Ende der Qing-Dynastie, also etwa 2500 Jahre lang, waren literarische Anspielungen im politischen, gesellschaftlichen und privaten Leben eine Selbstverständlichkeit. Schon Konfuzius empfahl seinen Schülern das Buch der Lieder für den diplomatischen Verkehr. Er selbst belebte seine Gespräche gern durch Zitate aus den Liedern, denen er einen moralischen Sinn unterlegte. Bei Verhandlungen mit fremden Staaten hing der diplomatische Erfolg nicht selten von der schlagfertigen Verwendung von Zitaten aus den Liedern ab, die man, passend zur aktuellen politischen Situation, „aus dem Zusammenhang“ zitierte (duan zhang); im Geschichtswerk Zuozhuan finden sich dafür viele Beispiele.
Eine wichtige Funktion hatten Zitate bei Kritiken am Kaiser und seiner Regierung, da man sich sonst in Lebensgefahr brachte. Selbst dies half meist nicht viel, wie die zahlreichen Schriftsteller-Prozesse zeigen. Durch die konfuzianische moralische Sendung der Literatur, „die Gegenwart mittels der Vergangenheit zu kritisieren“ (chen gu ci jin) erhielten Zitate eine politische Brisanz, und es gab bis in die Kulturrevolution viele Schriftsteller, die aufgrund von Zitaten verurteilt oder sogar hingerichtet wurden.
Ein berühmtes Beispiel mutiger Fürstenkritik ist im 2.Jh. n.Chr. der später hingerichtete Kong Rong. Dieser schickte seinem Fürsten einen Brief mit einem antiken Zitat, das die Unmoral eines Herrschers anprangerte. Als ihn Cao Cao mißtrauisch nach der Quelle fragte, erklärte Kong Rong, der das Zitat bewußt so erfunden hatte, provokativ: „Vom heutigen Standpunkt ist es höchst zwingend!“ (yi jin du zhi, xiang dang ran er). Diese Begebenheit hatte eine nicht minder bekannte literarische Nachgeschichte. Su Dongpo brachte in seinem Examensaufsatz ein elegantes antikes Zitat, das er aber bloß erfunden hatte. Als ihn der kaiserliche Prüfer und Dichter Mei Yaochen über die Quelle befragte, zog sich Su Dongpo mit der Bemerkung, die Stelle sei doch „höchst zwingend“ gewandt aus der Affäre. Heutzutage macht man sich mit einem „höchst zwingend!“ (xiang dang ran) über eine allzu subjektive Meinung lustig.
Zitate waren auch in Gesellschafts-Gedichten hilfreich. Die chinesischen Beamten am Kaiserhof lebten ständig in der Angst, auf kaiserlichen Befehl ein Gedicht zu einem vorgeschriebenen Thema aus dem Stegreif verfassen zu müssen. Wie unangenehm derartige mit einer möglichen öffentlichen Bloßstellung, Strafversetzung oder sogar Hinrichtung verbundenen Gedichtaufträge sein konnten, zeigen die bei solchen Anlässen häufigen Ausflüchte; verständnisvollere Kaiser gaben die Themen daher manchmal schon im voraus. Auch im privaten gesellschaftlichen Leben standen die Beamten ständig unter dem Zwang, Gedichte zu verfassen. Ein Bankett, eine Hochzeit, ein Trauerfall, ein zwangloses Zusammensein mit Freunden waren nicht vollständig ohne Gedichte. Die Gedichtwettkämpfe im Traum der Roten Kammer, in den Gelehrten (Rulin waishi) sind besonders bekannte Beispiele.
Da nun auch die größten Dichter nicht ständig von der Muse geküßt waren, griff man gerne zu Zitaten, zumal der Empfängerkreis riesig war und vom Kaiser bis zur eigenen Frau reichte. Allmählich spielten sich zu bestimmten Themen besonders sinnreiche Zitate ein: Galt es, ein Gedicht auf den Kaiser zu verfassen, wählte man vorzugsweise König Wen von Zhou oder den Han-Kaiser Wudi. Bei dem Thema Chrysanthemen griff man auf den Einsiedler-Dichter Tao Yuanming zurück: „Am Ostzaun pflücke ich Chrysanthemen“ (caiju dongli xia). Für die alljährlich zum Mondfest zu verfassenden Mondgedichte waren die Spitzenreiter Du Fus an seine durch den Krieg getrennte Frau gerichtetes Gedicht: „Der Fuzhou Mond heut abend…“ (yue ye), die Mondgedichte von Li Bai oder Su Dongpos „Ich will auf dem Wind nach Hause reiten/ Und fürchte nur die Kälte/ Im Jadepalast dort droben (shui diao ge tou).
Ein weiterer Grund für die Beliebtheit von Zitaten war der Druck der konfuzianischen Moral. Sinnliche Liebesszenen bedeckte man lieber mit dem Schleier der Antike, da man sich sonst um Ruf und Stellung brachte. Häufige Anspielungen sind in diesem Zusammenhang Song Yus Gedicht über eine Flußgöttin (shennü fu), das schildert, wie König Xiang von Chu im Traum sexuell mit einer schönen Flußgöttin verkehrt, um dann traurig zu erwachen; Anspielungen auf Sima Xiangru, der Zhuo Wenjun in grandioser Verachtung konfuzianischer Moral entführte, obwohl sie eine junge Witwe war; oder die tragische Liebesgeschichte des Tang-Kaisers Minghuang, der durch seine Liebe zu der schönen Yang Guifei seinen Thron verlor.
Die Vorliebe für kryptische Zitate entwickelte sich in der Song-Zeit. Der berühmte Dichter Wang Anshi schmückte seine Werke mit so gelehrten Anspielungen, daß sich seitdem Gedichtkommentare einbürgerten. Noch weitreichender war der Einfluß von Huang Tingjian und seiner Jiangxi-Gruppe. Während Du Fus Zeitgenosse, der Dichter Yuan Zhen, in seinem Nachruf den klaren Stil und die Gefühlstiefe Du Fus hervorhob, bewunderte Huang dessen literarische Anspielungen:
In den Gedichten Du Fus und der Prosa Han Yus gibt es kein einziges Schriftzeichen ohne literarische Quelle (wu zi wu lai chu); weil später die Leute zu ungebildet waren, erklärten sie Han Yu und Du Fu hätten alles selbst erfunden… Die antiken Dichter konnten alles umschmelzen und bei ihren Zitaten Eisen in Gold verwandeln (dian tie cheng jin).
Huangs einprägsame Devisen „kein Schriftzeichen ohne Quelle“ und „Eisen in Gold verwandeln“ führten dazu, daß die Lyriker sich in kryptischen Anspielungen überboten. Das wiederum beflügelte die Kommentatoren, auch dort Zitate zu entdecken, wo dies durchaus nicht der Fall war. Huangs Kommentatoren lebten in ständiger Panik, ihnen könnte aus Unbelesenheit ein Zitat entgehen. Selbst als Huang bei einer Imitation des Tang-Dichters Bai Juyi einige Zeichen verwechselte, erklärte man begeistert, er habe „Eisen in Gold verwandelt“.
Vom Volumen der Kommentare nimmt Du Fu eine ähnliche Stellung ein wie bei uns Goethe oder Shakespeare. Am wichtigsten ist der Qing-zeitliche Kommentar von Qiu Zhao’ao, der die vorhergehenden Kommentare in großem Umfang miteinbezieht. Obwohl in vielen Punkten ausgezeichnet und bis heute unentbehrlich, wird ein unbefangener westlicher Leser zuerst erschrecken über die Länge und abseitige Gelehrsamkeit vieler Erläuterungen. Der Kommentar ist – wie in China üblich – nicht schamhaft am Ende des Buches versteckt, sondern auf jede Gedichtzeile folgt ein Kommentar, der den Text an Länge um ein Vielfaches übertrifft. Es ist fast wie ein amerikanischer Fernsehfilm, der alle paar Minuten von Reklame unterbrochen wird. Und was wird nicht alles kommentiert! Da „kein Zeichen ohne Quelle“ ist, werden auch für so unschuldige Worte wie „Himmel“ und „Mensch“ raffiniert entlegene Quellen angeführt – alles andere wäre ein Mangel an Bildung; wobei die wirklich schwierigen Stellen oft elegant übergangen werden. Denn es geht schließlich nicht darum, den Sinn zu erklären, sondern wie ein Detektiv auf heißer Fährte möglichst viele Anspielungen zu entdecken.
In China gab es früh Kritik an der übermäßigen Verwendung literarischer Zitate und Anspielungen. Schon im 5.Jh. warnte Zhong Rong im Shipin vor dem „Abschreiben“ (wenzhang dai tong shu chao). Liu Xie nannte im Wenxin diaolong literarische Imitationen spöttisch „Fischaugen statt Perlen“ (Kap.14 „zawen“) und mahnte, auch zufällige Plagiate zu entfernen (Kap.42 „zhixia“, „Literarische Fehler“). Er war nicht grundsätzlich gegen Zitate, aber forderte, die antike Literatur nur als Rohmaterial zu verwenden (Kap.38, „shilei“, „Anspielung“):
Da kannst gemasert Holz du brechen;Man schenkt dir Jaspis, Perlen auch.“Nutz fremdes Du im eignen Sinne“Von alters her kein schlechter Brauch.
In der Tang-Zeit vertrat der Historiker Liu Zhiji in Shitong Kap. „moni“ (Nachahmung) die Ansicht, man dürfe nur den Geist, nicht aber die Form antiker Schriften nachahmen (maoyi xintong). Auch Han Yu wandte sich, wie viele andere, nicht gegen das Bücherlesen überhaupt, jedoch gegen die Übernahme von Lesefrüchten in Gedichte: „Man muß alles lesen, aber darf es nicht in Gedichten verwenden“. Als Anfang der Song-Zeit die Xikun-Stilisten (xikunti) den Tang-Dichter Li Shangyin imitierten, wurde dies häufig verspottet. Bekannt ist die Anekdote, als bei einem Gastmahl ein als Li Shangyin verkleideter Clown in jämmerlichem Aufzug erschien und klagte: „Man hat mir alle Kleider abgerissen!“ Seitdem gilt „Kleider abreißen“ (xunche) als ein Ausdruck für Plagiat. In der Ming-Zeit opponierte Li Zhi sowie die von ihm beeinflußte Gongan-Schule heftig gegen das „Kleider abreißen“ der Archaisten. Besonders der Führer der Gongan-Schule, Yuan Hongdao, wandte sich gegen sterile Imitationen der Antike, die er drastisch mit dem „Wiederkäuen von Kot“ verglich. In einem Gedicht schrieb er:
Den Vergleich mit den Alten
Verbitte ich mir!
Auch im selben Bett
Sind Träume verschieden!
Wenn es auch an ausdrucksvollen Gegenreaktionen nicht fehlte, waren sie doch in der Minderzahl gegenüber denjenigen, die Übernahmen als Erkennungszeichen eines Dichters priesen. In seiner Auswahl von Song-Gedichten hat Qian drei Aussprüche der Tang-, Song– und Ming-Zeit gegenübergestellt, die eine immer stärkere Abhängigkeit von der literarischen Vergangenheit illustrieren:
1. Der Tang-zeitliche Mönch Jiao Ran schreibt in Shishi noch recht unabhängig:
Die Rückkehr zur Antike darf nicht übertrieben werden… aber eine erfolgreiche Veränderung darf ruhig heftig sein… Wenn man uninspiriert mit Gewalt das Altertum nachahmt, ist das dumm und schwächlich.
2. In der Song-Zeit klingt Jiang Kui schon weniger kämpferisch:
Man soll nicht nach Harmonie mit der Antike streben, aber in Harmonie mit ihr leben, sich nicht unbedingt unterscheiden wollen, aber sich doch unterscheiden.
3. In der Ming-Zeit ist die Lyrik der Antike zum dogmatischen Vorbild geworden. Der Archaist Li Mengyang schreibt: Mit Zirkel und Winkelmaß zeichnet man Kreise und Ecken, diese Werkzeuge wegzuwerfen wäre Unsinn … benutzt man sie, ist der Erfolg fast sicher. Wie kommt das? Es muß ein gemeinsames Gesetz geben. Die Dichter Cao Zhi, Liu Zhen, Ruan Ji, Lu Ji, Li Bai und Du Fu kann man nachahmen, ohne sie zu verändern.
Die drei Äußerungen mögen etwas einseitig ausgewählt sein, da es, wie erwähnt, auch andere Stimmen gibt. Komplizierend tritt noch der bekannte Unterschied von Theorie und Praxis hinzu. Es lassen sich mühelos Aussprüche von Du Fu und Li Bai, Chinas originellsten Lyrikern, zusammenstellen, in denen diese in schöner Unbefangenheit die Meinung vertreten, daß sie in ihren Gedichten „zum Altertum zurückkehren“; andererseits Äußerungen von sehr bewußt die Tradition ablehnenden Ming-Dichtern, deren Gedichte jedoch wesentlich weniger erfindungsreich sind. Vielleicht bedeutet tatsächlich erst das Bewußtsein von „Originalität“, daß man sie verloren hat.
Im 20. Jahrhundert kam es zu einer radikalen Ablehnung des Zitats durch die Schriftsteller des 4. Mai. Wohl das einflußreichste Beispiel sind Hu Shis „Acht Verbote“ (ba bu zhuyi), in denen er jungen Dichtern ans Herz legt, nicht die Antike nachzuahmen und keine klassischen Anspielungen zu benutzen. Hu Shi und den Schriftstellern des 4. Mai erschienen Zitate als Zeichen geistiger Hörigkeit, von Examensehrgeiz und ängstlicher Beamtenmentalität, wenn nicht als Symbol für Chinas Schwäche schlechthin. Diese Haltung hat sich bis in neuere Zeit fortgesetzt.
WESTLICHE ZITAT-FORSCHUNG
Besonders aufschlußreich erscheint mir im Vergleich zu China die westliche Wertung des Zitats und die verschiedenen Versuche, zwischen Zitat und Plagiat zu unterscheiden. Auch im Westen war zunächst das schulische Auswendiglernen der Klassiker die Grundlage für die Verwendung von Zitaten. Scholastiker wie Erasmus beschrieben das Fortschreiten der Schüler vom lauten Aufsagen zur Zusammenfassung und schließlich zur meist christlichen „Verwandlung“. In der humanistischen Schultradition schritt der Unterricht in den Klassikern von der translatio zur paraphrasis, danach weiter zur imitatio und schließlich zur freieren allusio.
Wie Untersuchungen von Curtius u.a. zeigen, ist die gesamte westliche Literatur, von der Antike bis zur Neuzeit, voller Zitate und Entlehnungen. Besonders in der westlichen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt das Zitat als überaus wichtiges Ausdrucksmittel. Berühmte Autoren wie T.S. Eliot, Joyce, Ezra Pound, Thomas Mann schwelgten in Zitatenkollagen und betrachteten den literarischen Diebstahl recht lässig, wenn sie ihn nicht ausdrücklich ermunterten. So ist für T.S. Eliot das Stehlen geradezu ein Erkennungsmerkmal des guten Dichters:
One of the surest tests is the way in which a poet borrows. Immature poets imitate; mature poets steal.
Ezra Pound schreibt etwas gemäßigter, aber nicht minder entschlossen:
Be influenced by as many artists as you can, but have the decency either to acknowledge the debt outright, or to try to conceal it.
Die westliche Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts behandelt Zitate nicht minder wohlwollend. Von Shakespeare sagt man anerkennend, er habe besonders viel von anderen abgeschrieben. Goethe sagt dasselbe sogar von sich selbst. Wenn Chaucer Boccacccio ausbeutet und Milton die Bibel oder Rabelais seine Zettelkästen auskippt, finden sich dafür Verteidiger und Bewunderer. Arno Schmid schrieb Zettels Traum, ohne daß man ihn deshalb für unoriginell hielt. Bei Montaigne, Ezra Pound, T.S. Eliot, Fontane, Joyce und Thomas Mann, Musil, Marcel Proust wird die üppige Zitatverwendung bewundernd durchleuchtet.
Bei den kritischen Wertungen scheinen die Grenzen fließend. Erstens ist die moralische Beurteilung, d.h. die Unterscheidung von Zitat und Plagiat, recht schwankend. Coleridge z.B. kopierte ganze Passagen wörtlich von Kant, Schelling, Schiller Jean Paul und A.W. Schlegel und begründete damit seinen Ruhm als englischer Literaturtheoretiker. Vorwürfe des Plagiats wies er mit Hinweis auf sein schlechtes Gedächtnis und seine Opiumsucht zurück, was wenig überzeugt, da er lange komplizierte Passagen wörtlich kopierte. Der nicht weniger berühmte Sterne hat in Tristram Shandy ebenfalls ganze Passagen aus Robert Burtons Anatomy of Melancholy abgeschrieben und sogar eine Philippika gegen den literarischen Diebstahl aus lauter Burton-Zitaten zusammengebaut. Wenn H. Meyer dies auch als akrobatische Artistik lobt, gibt er doch zu, daß Sterne hier auf des Messers Schneide zum Plagiat steht und tatsächlich auch als Plagiator angegriffen wurde. Es ist durchweg so, daß man nur kleinen Größen Plagiate vorwirft, bei berühmten Dichtern hingegen gewillt ist, sie als kreativ einzustufen.
Die ästhetische Beurteilung ist noch unsicherer. Einerseits wird das schöpferische Element gelobt, Zitate zu kürzen, in ihrem Sinn umzukehren, zu verändern und sie in einen anderen Kontext zu stellen, um ihnen dadurch eine neue Funktion zu geben. Andererseits kommt man an der Tatsache nicht vorbei, daß ehemals originelle Aussprüche zu geflügelten Worten und zu Klischees werden. Vom Ausverkauf der Werte beispielsweise in den Zitaten der Reklamesprache ist die Rede. Wir sind nur noch eine „Schallplatte der Vergangenheit“ und wir wühlen im „Kulturmüll“.
Als Ausweg erscheint vielen das ironische Zitieren. Schon F. Strich beschreibt bezüglich Thomas Manns Joseph und seine Brüder die „ironische Gestalt der Parodie, in der die Vergangenheit wohl aufgehoben ist, aber in jenem tiefen Doppelsinn, den das Wort ‚aufheben‘ besitzt“; dadurch könnte der Mensch „von der schweren Last der Tradition befreit… heiterer und unbeschwerter in die Zukunftgehen.“ Ähnlich unterscheidet H. Meyer zwischen zwei verschiedenen Arten von Zitaten: erstens den gelehrten Zitaten im Barock, die den Leser nur belehren wollten und noch in geistiger Hörigkeit befangen seien; zweitens der spielfreudigen Zitierkunst späterer Zeiten mit ironisch-kulturkritischen Tönen.
Hinzu kommt noch ein psychologisches Dilemma. Besonders von Linguisten wird der Zitatcharakter unserer Sprache als etwas Positives herausgearbeitet und als wichtiges Kommunikationsmittel gepriesen. Leisi in seinem Kapitel „Lieben nach Texten“ betont die psychologisch hilfreiche Rolle von Bücher-und Schlagerzitaten beim Liebesspiel. Andererseits wird erklärt, eine Überfülle von Zitaten führe zu Epigonenangst, zum Verlust der spontanen Schreibfreude und schließlich zu neurotischem Verstummen. Die bekannte Sentenz „Was du ererbt von deinen Vätern…“ scheint nicht einfach zu verwirklichen. So schrieb K.L. Immermann 1830 über seinen Roman Die Epigonen:
(Der Roman behandelt) …den Segen und Unsegen des Nachgeborenseins. Unsere Zeit, die sich auf den Schultern der Mühe und des Fleißes unserer Altvordern erhebt, krankt an einem gewissen geistigen Überflusse. Die Erbschaft ihres Erwerbes liegt zu leichtem Antritte uns bereit, in diesem Sinne sind wir Epigonen. Daraus ist ein ganz eigentümliches Siechtum entstanden…
Auden verfaßte ein Gedicht mit dem Titel „The Epigoni“ und schrieb an anderer Stelle:
The danger for modern literature and modern man is paralysis of action through excess of imagination, an imprisonment in the void of infinite possibilities“.
Schon im Mittelalter gab es dafür einen Topos, der wohl auf Bernhard von Chartres zurückgeht: „Wir sind die Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen“ – womit gesagt wird, daß man zwar weiter sieht, aber viel kleiner ist. In neuerer Zeit hat sich daraus eine einflußreiche Schule der Literaturkritik entwickelt, die die gesamte Literaturgeschichte als angstvolle Freudsche Rebellion der Jungen gegen die Alten deutet. Um der „Last der Vergangenheit“ zu entrinnen, plädierte schon Nietzsche für das radikale Vergessen, damit es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen wird. Andererseits wird in der Psychiatrie gerade die Bedeutung der Erinnerung für die Heilung seelischer Krankheiten betont.
Wir sehen, das Zitat ist ein schillerndes Instrument zwischen Moral und Unmoral, schöpferischer Neuerung und steriler Imitation, zwischen Neurose und Heilung. Jedoch ist die westliche Haltung durchaus positiv, d.h. „im Zweifel für das Zitat“. Was sagt Qian nun vom chinesischen Standpunkt dazu?
Guan Beispiele
Qian behandelt diese Fragen schon in seiner Auswahl von SongGedichten (Songshi xuanzhu), daher werde ich dieses Buch miteinbeziehen.
GEISTIGER DIEBSTAHL
Die moralische Beurteilung ist streng. Schon im Vorwort seiner Song-Gedichte wendet sich Qian gegen literarische Zitate:
…keine offensive Gelehrsamkeit, keine raffinierten literarischen Anspielungen oder geflügelten Worte, keine imitierten Antiquitäten, die sich auf ihre Nachahmung der alten etwas zugute tun und keine Plagiate, die die alten Gedichte nur in neuem Gewande bringen, ohne selber das geringste dazu zu tun; (Plagiate) erkennt man sofort als Hochstapler, (Imitationen) können sich leicht verbergen, sind jedoch nur eine andere Sorte Komödianten, von denen man bekanntlich zu sagen pflegt: „Schauspieler verkleiden und schminken sich täglich anders, doch wenn man genau hinschaut, sind es immer dieselben“.
In ihrer Heftigkeit steht diese Negativliste Hu Shis „Acht Verboten“ in nichts nach.
In Guan ist der Horizont weiter und das Urteil etwas milder, jedoch immer noch wesentlich strenger als in der westlichen Literaturkritik. Qian scheut sich nicht, auch die berühmtesten Dichter wie Li Bai, Du Fu, Su Dongpo des Plagiats anzuklagen. (S.363) Desgleichen werden die gegenseitigen Anleihen von Daoisten, Konfuzianern und Buddhisten aufgedeckt, ihre gegenseitigen Plagiatvorwürfe verspottet. (S.478ff) Qian prangert den wissenschaftlichen Diebstahl berühmter Kommentatoren an wie Guo Xiang, der den fast fertigen Zhuang Zi Kommentar von Xiang Xiu entwendete und unter seinem Namen herausgab. (S.1283) Er kümmert sich um den mündlichen Diebstahl und zitiert einen Song-zeitlichen Brief von Zong Bing an einen gewissen Herrn Lei (ji Lei Cizong shu): „Früher habe ich von (dem Mönch) Hui Yuan mit Ihnen zusammen über dieses Thema Belehrung empfangen, wieso steht nun über Ihrer Abhandlung der Name Lei?“ (S.1283) Attackiert wird auch die üble Sitte, daß einflußreiche Beamte ihre Untergebenen anwiesen, für sie Gedichte zu schreiben. (S.940ff) Noch negativer ist das Urteil über junge Dichter, die ihre Gedichte zuerst einflußreichen Personen anboten, um diese hinterher damit zu erpressen. (S.1451f)
In gewissen Fällen macht Qian jedoch Ausnahmen und verteidigt sogar manche Dichter gegen Plagiatvorwürfe: Durch den strengen Parallelismus der antiken Regelgedichte (lüshi) und die begrenzte Zahl literarischer Zitate war die Wahrscheinlichkeit groß, daß manche Kombinationen mehrfach auftauchten. Wollte man beispielsweise seine Unzufriedenheit über die politischen Zustände ausdrücken, bot sich Konfuzius an, und um aus den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu) einen schönen Parallelvers zu machen, gab es einfach nur die beiden Fabeltiere Phönix und Einhorn, deren Verschwinden Konfuzius als unglückliches Vorzeichen für seine politische Sendung beklagt hatte. Auch bei Reisen von und nach Sichuan lag es nahe, die berühmte Balladenzeile „Mühsam sind die Wege von Sichuan“ (Shu dao nan) mit Heimweh nach der fernen Hauptstadt Chang’an zu koppeln: „Chang’an ist weit“ (Chang’an yuan). (S.2023f) Dies ist möglicherweise kein absichtlicher Diebstahl, sondern „high frequency or probability“, wobei er jedoch sofort vorsichtig hinzufügt:
Ich will damit nur auf die Möglichkeit eines Zufalls hinweisen, aber keinesfalls das Stehlen als eine Selbstverständlichkeit hinstellen und diebische Übergriffe beschönigen. (S.1025)
„EISEN IN GOLD VERWANDELN“ DIAN TIE CHENG JIN
Die ästhetische Wertung von Zitaten geschieht anhand der verschiedensten Formen von „Verwandlung“ wie Umkehrung, Verbesserung, Verschlimmbesserung, parodistische Übertreibung. Ich gebe einige charakteristische Beispiele.
ENTSTELLTE ZITATE (DUANZHANG)
Die älteste Form, „Eisen in Gold zu verwandeln“, ist bekanntlich die mit Konfuzius beginnende Tradition, Gedichtzeilen des Buchs der Lieder in einem moralischen Sinn zu zitieren, der vom ursprünglichen oft beträchtlich abwich. Die Tradition aus dem Zusammenhang genommener Zitate (duanzhang) aus den Liedern illustriert Guan anhand von Beispielen aus dem Geschichtswerk Zuozhuan und den konfuzianischen Klassikern Zhongyong und Daxue. (S.224ff) Ironisiert wird die orthodoxe Meinung, Konfuzianer brauchten nicht an den Gedichttexten zu kleben; so erklärt Lu Pukui im Zuozhuan „Xianggong 28. Jahr“ lässig:
Aus den Liedern nehme ich mir, was ich brauche. (S.224)
und Lu Wenzhao schreibt in Baojingtang wenji Kap.3 „Jiaoben ‚Hanshi waizhuan‘ xu“:
Die Lieder besitzen keine feste Form, für den Leser gibt es keine festen Erklärungen… jeder sucht sich seinen Sinn, der mit der ursprünglichen Bedeutung nicht völlig übereinstimmen muß. (S.224)
Kritisiert werden auch die zweckentfremdeten Gedicht-Zitate in der Song-zeitlichen buddhistischen Schrift Wudeng huiyuan und in den Schriften des Neokonfuzianers Zhu Xi. Lobend erwähnt Qian dagegen die psychologisch feinfühligere Zitierweise von Menzius sowie den Tang-zeitlichen „Orthodoxen Kommentar“ der Lieder von Kong Yingda, der die Sitte „entstellter Zitate“ mißbilligte.
Im Gegensatz dazu beurteilt Qian eine gewisse Form von Zitatspielen (jiju) positiv, die während der Sechs Dynastien für die Parallelprosa aufkamen. Hierbei wird durch die raffinierte Kombination verschiedener Gedichtzeilen beispielsweise aus den Liedern oder dem Lunyu ein neues Gedicht gemacht. Obwohl es sich hier ebenfalls um „entstellte Zitate“ handelt, lobt Qian diese Zitatspiele als rhetorisch glanzvolle Neuschöpfungen und führt zur Verteidigung auch westliche Meinungen ins Feld wie „All is fair in quotation“.
UMKEHRUNG
Der chinesische Klage-Topos, zu spät geboren zu sein, um die antiken Helden zu sehen, wurde nach Guan zuerst von Zhang Rong in „tanshu“ ins Gegenteil verkehrt:
Die Alten nicht mehr zu sehen
Ist mir kein Verlust
Doch bringt mir Verdruß
Daß die Alten mich nicht sehen!
Dies wurde dann wieder von vielen Dichtern nachgeahmt, so von dem Song-Lyriker Xin Qiji (S.698).
Jedoch werden auch parodistische Umkehrungen weniger als Neuschöpfungen, sondern vielmehr als Nachahmungen gewertet. Qian macht sich hier einen Ausspruch von Lichtenberg zu eigen:
Grade das Gegentheil thun ist auch eine Nachahmung, und die Definition der Nachahmung müssten von Rechts wegen beydes unter sich begreifen.
DICHTER-ANRUFUNG
Das wohl häufigste Objekt ist hierbei Chinas erster Dichter Qu Yuan, der bei dem König von Chu wegen Verleumdungen in Ungnade fiel, verbannt wurde, die Elegie „Li Sao“ schrieb und sich aus Verzweiflung im Miluo-Fluß ertränkte. In einer berühmten Stelle in den Liedern von Chu (Chuci „Yu fu“) heißt es dazu:
Qu Yuan wurde verbannt… ging seufzend am Ufer der Sümpfe… sein Gesicht ausgemergelt und sagte: „Die ganze Welt ist schmutzig, ich allein bin rein, alle sind betrunken, ich allein bin nüchtern, und darum wurde ich verbannt“.
Dies wurde nun häufig variiert. Als z.B. der Song-Dichter Ouyang Xiu ebenfalls wegen Verleumdungen in das unwirtliche Chuzhou strafversetzt wurde, suchte er im Alkohol Trost und spielte auf diese Stelle an:
Lächerlich Qu Yuan
An den Sümpfen von Chu
Der ausgemergelte Dichter des „Li Sao“
Mit seiner Trauer
Als einziger nüchtern zu sein.
Qians Kommentar „Ouyang Xiu benutzt den Vergleich als Vorwand zum Trinken und außerdem als Ausdruck seiner Verbitterung“ läßt sich noch erweitern: Der betrunkene Ouyang Xiu stellt sich im Rausch noch über Qu Yuan, dessen Nüchternheit er verspottet, es ist also gleichzeitig auch eine parodistische Überbietung.
ÜBERBIETUNG
Ein Beispiel ist der Kriegschrei: „Wütend sträubt das Haar die Mütze!“ (nufa chongguan); wohl wegen allzu großer Bekanntheit im Guan nicht erwähnt wird die berühmteste Verwendung der „gesträubten Mütze“, nämlich als erste Zeile des Lieds „Der ganze Fluß ist rot von Blut“ (manjiang hong); darin ruft der Song-zeitliche General Yue Fei zum Kampf gegen die Barbaren auf; das Lied wird noch heute gern von chinesischen Truppen gesungen und fehlt auch selten auf musikalischen Veranstaltungen von Auslandschinesen; im Deutschen scheint mir die Wendung „mir geht der Hut hoch“ ähnlich, wenn auch nicht so ausdrucksvoll.
In Guan wird das Bild auf den Historiker Sima Qian zurückgeführt; in der Biographie „Lian Po und Lin Xiangru“ fügte dieser die gesträubte Mütze in die Schilderung eines Zweikampfs ein, wodurch er seine trockene historische Quelle an Dramatik weit überbot. Versuche, Sima Qian noch einmal zu übertreffen, erklärt Qian für gescheitert. So wird etwa „Wütend sträubt das Haar die Mütze/ Diese reißt!“ in Guan nicht als Steigerung gewürdigt.
Bewußte Ironie bewies dagegen Shi Dongtong in „qi yan lu“, wenn er erklärte: „Guo Pu komponierte in seinem Gedicht „Wandernder Heiliger“ (youxian shi) die Zeilen: ‚Der Qingxi-Berg/ Wohl tausend Klafter hoch/ Und auf ihm wandelnd/ Ein Daoisten-Mönch‘. Ich jedoch schreibe:
Der Qingxi-Berg
Zweitausend Klafter hoch
Und auf ihm wandelnd
Der Daoisten zwei!
Ist mein Gedicht nicht doppelt so gut wie das von Guo Pu?“. (S.737)
In ähnlicher Weise wurde dir Sentenz „In der Vergangenheit war alles besser“ durch übertriebene Beispiele ironisiert, so bei Bao Pu Zi „wai pian: shang bo“:
Die heutigen Berge sind nicht so hoch wie in der Antike, die heutigen Meere nicht so riesig, die heutige Sonne nicht so heiß, der heutige Mond nicht so hell. (…)
CORRUPTION OF CONSCIOUSNESS
Mit den psychologischen Schwierigkeiten des Epigonentums beschäftigte sich Qian auch schon in seiner Auswahl von Song-Gedichten. Das Bewußtsein dafür begann seiner Meinung in der Song-Zeit, waren doch die Song-Dichter die literarischen Erben der Tang-Zeit, des Höhepunktes der chinesischen Lyrik. So wie Alexander der Große bei jedem Sieg seines Vaters befürchtete, auf der Welt nichts mehr erobern zu können, erging es auch den Song-Dichtern:
Es war das große Glück der Song-Dichter, die Tang-Lyrik zum Vorbild zu haben, aber es war auch ihr großes Unglück.
Ein Beispiel für künstlerische Selbstzweifel angesichts der Überlegenheit der Tang-Dichter ist der Song-Dichter Lu You in seinem Gedicht „Jianmen dao zhong yujian wei yu“:
Bin ich zum Dichter geboren?
Ich reite auf meinem Esel
Über den Paß von Jianmen.
Wie Qian in seinem Kommentar erläutert, führt der Paß Jianmen in die Provinz Sichuan, wo Li Bai und Du Fu gelebt hatten. Es gab viele bildliche Darstellungen von diesen beiden Dichtern auf einem Esel, ebenso von Jia Dao u.a.; der Esel galt damals typisches Fortbewegungsmittel eines Dichters. Angesichts seines eigenen Eselsrittes nach Sichuan mußte sich Lu You fragen, ob er wirklich genug Begabung zum Dichter hatte. Qian führt auch ein anderes Gedicht von Lu You über den Yueyang-Turm an. Dort hatten lange vor ihm schon Du Fu und Meng Haoran berühmte Gedichte geschrieben, was bei Lu You ähnliche Selbstzweifel auslöste (Yueyang lou shang zai fu yi jue):
Ich wende die Augen vom Yueyang-Turm
Zum Dichter bin ich bestimmt nicht geboren!
Hauptpunkt sind jedoch nicht die Epigonenängste der Dichter, aus denen diese immerhin sehr schöne Gedichte zu machen verstehen (auch Lu You wurde trotz seiner Selbstzweifel einer der berühmtesten Dichter der Song-Zeit). Als eigentliches Problem wird der Verlust der künstlerischen Spontaneität gesehen, bei der eigene Empfindungen durch glanzvolle Zitate ersetzt werden.
Stellte Qian in den Song-Gedichten diese Zitat-Krankheit noch relativ simpel als etwas durchweg Negatives und zu Vermeidendes dar, ist in Guan die Haltung differenzierter und ambivalenter. Als Ausgangspunkt benutzt er eine bekannte literaturkritische Kontroverse der Song-Zeit, in der die Frage – eigenes Erlebnis oder Zitat? – nach vielen Seiten hin diskutiert wurde (S.586ff): Wang Anshi hatte in seinem Gedicht „Welke Chrysanthemen“ (canju) geschrieben:
Welker Chrysanthemen-Wirbel
Färbt die Erde golden.
Sein Kommentator Li Bi berichtet, Ouyang Xiu habe die Zeile kritisiert, weil Chrysanthemenblüten nicht abfallen, sondern am Stengel welken und darüber ein Spottgedicht geschrieben (Herbstblume = Chrysantheme):
Im Frühling fallen die Blüten
Im Herbst jedoch nicht
Ich bitte den Dichter
Zu schärfen den Blick!
Darauf habe Wang Anshi geantwortet, Ouyang Xiu kenne wohl nicht die berühmte Zeile Qu Yuans: „Abends speise ich fallende Herbst-Chrsanthemen“, es mangele ihm doch sehr an Bildung! Die fallenden Blüten würden nämlich eine Zeit moralischen Verfalls symbolisieren.
Guan zitiert Kommentatoren-Meinungen, in denen dieser Widerspruch zwischen Realität und Dichtung verteidigt, kritisiert oder durch etymologische Erklärungen weginterpretiert wird (z.B. Chrysanthemen als Gemüse). Die raffinierteste Erklärung ist sicher die, Qu Yuan habe gerade durch die Unmöglichkeit seines Vergleichs auf die Unmöglichkeit seiner Versöhnung mit dem König von Chu hinweisen wollen. Qians eigener Kommentar geht dahin, Qu Yuan habe sich viele solcher „Fehler“ geleistet, was man einem großen Dichter nicht kleinlich ankreiden solle. Wang Anshis Blick dagegen sei vom Altertum getrübt, er sehe die Welt nur noch durch die Brille der antiken Literatur. Im Westen habe der Italiener De Sanctis das gleiche Phänomen beschrieben, daß die Schriftsteller nicht ihre eigenen Gedanken dächten, sondern die von Horaz und Vergil:
Lo scrittore non dice quello che pensa o immagina o sente, perchè non è l’immagine che gli sta innanzi, ma la frase de Orazio e di Virgilio.
Kurz gesagt, Wang Anshi leide an einem „verbogenen Bewußtsein“ (corruption of consciousness).
An anderen Stellen wird dieses harte Urteil relativiert, so bei der Behandlung der in chinesischen Historien und Gedichten häufig auftauchenden Wendung „zwei auf einen Schlag“ (S.363ff): Bei diesem Thema haben sich die berühmtesten Dichter wie Cao Zhi, Li Bai, Du Fu, Bai Juyi, Li He gegenseitig überboten. An der Spitze der „Großsprecher“ Li Bai, der seinen Helden mit demselben Pfeil nicht nur zwei Tiger, sondern auch noch zwei Adler durchbohren läßt. Einen komischen Höhepunkt erreichte das Thema mit dem gleichzeitigen Durchschuß von fünf Schweinen. Wenn Qian auch diese sich gegenseitig übertreffenden Plagiate lächerlich macht, verteidigt er gleichzeitig die dichterische Fantasie, denn anders als in der Historie spiele Literatur „nicht in der Sache, sondern in der Sprache“. Ein Beispiel ist das schöne Gedicht von Ouyang Xiu „cai sang zi“:
Ich lasse den Vorhang sinken
Ein Schwalbenpaar kehrt heim
Im leichten Regen.
Hierbei ist nach Guan die Frage „literarisches Zitat oder eigenes Erleben?“ schwer zu beantworten. Natürlich ist das Bild schon von Dichtern wie Xie Tiao, Lu Guimeng u.a. in ihren Gedichten benutzt worden, aber könnte Ouyang Xiu die Schwalben nicht tatsächlich in seiner Fantasie gesehen haben? Außerdem ist die Lyrik an sprachliche Regeln wie Reim und Parallelismus gebunden, weshalb ein Dichter die Realität oft verändern muß.
Diskussion
Vergleicht man chinesische und westliche Haltungen zum Zitat ist wohl am auffälligsten der Unterschied zwischen westlicher Zitatfreude und chinesischem Zitathaß seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hu Shis „Acht Verbote“ sind deutlich von Ezra Pound beeinflußt, aber beim Zitat weicht er von Ezra Pound ab, und nimmt die entgegengesetzte Position ein.
Auch in Guan ist die Toleranz gegenüber Zitaten wesentlich geringer als im Westen. Qian führt seine Attakenin einem farbigen aggressiven Diskussionsstil mit zahlreichen bildlichen Vergleichen: Über die Li Shangyin abgeschauten extremen Verkürzungen des Xikun-Stils schreibt er:
In literarischen Imitationen werden immer die Schwächen der Vorbilder mit nachgeahmt, genau wie in der Geschichte von der Frau, die eine Hose nach dem Muster einer alten schneiderte und, weil die alte Hose einen Riß hatte, schnell in die neue das gleiche Loch schnitt.
Über den Literaturtheoretiker Yan Yu heißt es:
Besonders in seinen Imitationen der 7-silbigen Gedichte Li Bais schreit er sich heiser… wie der Frosch in der Fabel, der sich aufbläst, um mit dem Ochsen zu wetteifern, wer der Größere ist.
Oder:
Aus Bücherregalen und Bücherkisten wird ein Elfenbeinturm gebaut, von dem der Dichter – wie der Goldfisch im Glas – nur selten einen Blick nach unten riskiert.
Qians Bilder sind zweifellos lebendig und eindrucksvoll, nur leider greift er in seinem Kampf gegen Zitate mit Vorliebe selbst zu ihnen, vielleicht um den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der „Riß in der Hose“ ist eine Anspielung auf Han Fei Zi, die anderen Bilder stammen meist aus der westlichen Literatur. Wenn also der Xikun-Stil in Qians eigenen Worten nur ein Haus ausräubert, die Jiangxi-Gruppe ganz China, so Qian die ganze Welt. Und wenn er Wang Anshi vorwirft, dieser schreibe absichtlich so kryptisch, um möglichst viele Kommentatoren anzulocken, so muß man fast bei Qian dieselbe Absicht vermuten, ist er doch ein ausgesprochen schwieriger Autor. In allen seinen Werken geht Qian mit Zitaten durchaus verschwenderisch um. Sogar die Sprüche vom „Gegenteil als Nachahmung“ sowie „corruption of consciousness“ sind nichts anderes als „Eisen in Gold“ verwandelnde Zitate. Nun können natürlich Theorie und Praxis immer leicht auseinanderstreben. Psychologisch könnte man sogar sagen, da Qian selbst so viele Zitate benutzt, sieht er die Gefahren besonders klar und kann deshalb besonders überzeugend dagegen polemisieren.
Die Frage – Zitat oder Plagiat? – wird durch die Untersuchungen in Guan zwar differenziert und bereichert, aber genauso wenig gelöst wie in der westlichen Literaturwissenschaft. So kritisiert Qian die aus dem Zusammenhang gerissenen konfuzianisch-moralischen Zitate (duanzhang) aus dem Buch der Lieder, lobt aber die Zitatspiele (jiju), bei denen genauso gewaltsam aus verschiedenen Texte neue Gedichte kombiniert werden. Man könnte meinen, daß dann auch Konfuzianern solche Freiheiten zugestanden werden müßten. In Guan wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen: Philosophen und Historiker müssen sich streng an die Regeln halten, Künstler dürfen dagegen schon mal ein bißchen über die Stränge schlagen.
Das psychologische Problem des Zitierens behandelt Qian anhand der Chrysanthemen-Debatte, der er dadurch eine neue Wendung gibt: Frühere Kommentatoren hatten entweder die fallenden Chrysanthemenblüten allegorisch z.B. als Zeichen für moralischen Verfall gedeutet oder die Frage diskutiert, ob ein Dichter sich streng an die Realität halten müsse oder die Natur verändern dürfe. Qian dagegen hält Zitate dann für bedenklich, wenn sie zu einer Lähmung der künstlerischen Kreativität führen (corruption of consciousness). Darauf spielt auch N. Frye für die westliche Literatur an, als er spöttisch schrieb:
Virgil discovered, according to Pope, that following nature was ultimately the same thing as following Homer.
Jedoch sind auch bei Qian die Grenzen zwischen produktivem und sterilem Zitat sehr fließend. Man kann sich fragen, wieso Ouyang Xiu und seine „zwei Schwalben im Regen“ dichterische Freiheiten genießen, die Wang Anshi und seinen „fallenden Chrysanthemenblüten“ den Vorwurf eines verbogenen Bewußtseins einbringen? Wenn Ouyang Xiu laut Qian das literarisch bekannte Schwalbenpaar „vielleicht in seiner Fantasie gesehen hat“, könnte man das gleiche eigentlich auch Wang Anshi zubilligen.
In Guan wird gegen die Krankheit des Zitierens gern eine Kombination von Bücherlesen und Lebenserfahrung vorgeschlagen. Wie in der alten chinesischen Kriegskunst gäbe es auch für Schriftsteller vier Methoden: 1.Studium der Antike und starre Befolgung der Regeln; 2. Generelle Verachtung von Büchern zugunsten der Praxis; 3. Zuerst eigene Praxis und dann Studium; 4. Zuerst Studium, danach Anwendung in überraschenden Verwandlungen. (S.356ff) Methode Vier, wie sie von dem berühmten Song-General Yue Fei praktiziert wurde, scheint auch für Dichter angebracht.
Jedoch ist die starke Betonung der Lebenserfahrung, die ein Grundthema von Guan darstellt, keine wirkliche Hilfe gegen „corruption of consciousness“, da es doch mehr auf die Verarbeitung der Lebenserfahrung ankommt, als auf die Lebenserfahrung selbst. Zudem sind für Schriftsteller und Wissenschaftler auch das Lesen und Schreiben Erfahrungen. Der völlige Verzicht auf Bücher wird aus verständlichen Gründen abgelehnt. Im Grunde vertritt Qian die geniale, aber auch gefährliche Devise Du Fus, die in China schon immer Geltung hatte (zeng Wei zuocheng zhang):
Zehntausend Bücher verschlingen
Und schreiben wie ein Gott!
Ganz ähnlich sagt H. Meyer bezüglich der Zitate von Thomas Mann: „… daß der Dichter seinen Stoff bewältigt, ohne ihm zu verfallen“. Die Frage ist nur wie? In China haben unzählige Dichter trotz Berufung auf Du Fus Götterpinsel die Welt nur noch durch den Schleier antiker Zitate gesehen und beschrieben. Das Problem ist abstrakt nicht lösbar und nur von Fall zu Fall zu entscheiden. Das Zitat kann ein Schlüsselloch zu neuen unbekannten Welten sein, aber es birgt auch die Gefahr des schwächlichen Schwelgens, tagträumenden Selbstgenusses und passiven Realitätsverlusts.
Vergleicht man die westliche und chinesische Zitatgeschichte, so zeigen sich, abgesehen von der gegensätzlichen Wertung im 20. Jahrhundert, in Theorie und Praxis mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. In beiden Kulturen stand am Anfang der Schulunterricht, der vom Auswendiglernen, zur eigenen Imitation und schließlich zur freien Variation führte. Zitatformen wie Umkehrung, Dichter-Anrufung, Überbietung, Parodie finden sich in China wie im Westen. Die obligaten Zitate in chinesischen Gesellschaftsgedichten kann man mit den Goethe- und Schillerzitaten in deutschen Tischreden vergleichen. Selbst die für China charakteristische Regierungskritik mittels antiker Zitate hat westliche Parallelen.
Chinesisch-westliche Unterschiede der Zitatpraxis sind gradueller oder recht spezieller Natur. Ein Beispiel ist die chinesische Tradition, Gedichtzeilen aus dem Buch der Lieder im diplomatischen Verkehr zu verwenden, die im Westen meines Wissens keine Entsprechung hat; ferner die chinesischen Zitatspiele der jiju, die in Form von Zitatklitterungen zwar auch in der westlichen Literatur erscheinen, aber weit weniger raffiniert entwickelt wurden und entsprechend geringeres Ansehen genießen; oder die in der chinesischen klassischen Lyrik verbreitete Neigung, Sexuelles nur durch einige wenige antike Zitate anzudeuten, was natürlich weniger den eigenen Neigungen, als dem Druck der konfuzianischen Moral entsprach.
Es ist nicht so, wie von Sinologen oft behauptet wird, daß die westliche Literatur weit weniger Zitate enthält als die chinesische; es stimmt auch nicht, daß chinesische Dichter traditionsgläubig die Vergangenheit immer nur imitieren wollten; vielmehr strebten sie genau wie die westlichen Dichter danach, Zitate lebendig anzuwenden (huo fa) und „Eisen in Gold zu verwandeln“. Der Unterschied von kreativem Zitat und sterilem Plagiat wird in China und im Westen sogar durch die gleichen Bilder dargestellt. Für das „gute“ Zitat wird gern die honigsammelnde Biene herangezogen, das „böse“ Plagiat dagegen bezeichnet man als Diebstahl und Wiederkäuen; selbst für das chinesische „Kleider abreißen“ (xunche) gibt es eine westliche Parallele: Schopenhauer läßt Kant – einer zeitgenössischen Karikatur folgend – im Luftballon gen Himmel fahren, während sich auf der Erde eine Affenherde von Hegelianern auf seine gesamte Garderobe stürzt.
Allerdings wirkte sich das Zitat in der westlichen Literatur weniger hemmend aus als in China. Die Gründe dafür dürften aber hauptsächlich im außerliterarischen Bereich liegen wie politischer Unterdrückung, den Zwängen der konfuzianischen Moral, Examens- und Karriereängsten, die die Schreiblust und den Mut zu Neuerungen lähmten. Dies galt für die politisch und gesellschaftlich sensible Lyrik und den Essay. Anders verhielt es sich bei Romanen und Opern; sie genossen als „vulgäre“ Literatur größere Freiheiten. Eine Fortsetzung fand die erzwungene Zitatpraxis in den politischen Kampagnen der Kulturrevolution, als viele Leute aus Sicherheitsgründen oder Opportunismus ständig Mao-Zitate im Munde führten.
Betrachtet man einmal die westliche Lyrik mit chinesischen Augen, gibt es überraschende Parallelen zwischen neueren westlichen Schriftstellern und chinesischen Archaisten, z.B. die Vorliebe für kryptische, gelehrte Anspielungen oder T.S. Eliots Diktum, Zitate seien Erkennungsmerkmal eines Dichters. Die Werke von T.S. Eliot, Ezra Pound, Joyce sind ohne wissenschaftlichen Kommentar kaum noch lesbar. Es gibt einflußreiche westliche Stimmen, die das Zitat für das wichtigste Ausdrucksmittel der Literatur des 20. Jahrhunderts halten. So schreibt G.R. Kaiser:
Das Zitat ist heute nicht mehr das bestätigende Wort der Autorität, noch auch harmloser Schmuck wohlabgestimmter Rede. Es ist, zu bislang unbekannter Bedeutung aufgeschwellt, eines der wichtigsten Mittel zeitgenössischer Literatur.
Besonders geschätzt wird das ironische Zitatenspiel, das als Mittel zur Gesellschaftskritik, als Befreiung von der Last der Tradition oder als unersetzliche Kommunikationshilfe fast durchweg positiv bewertet wird.
Interessant ist, daß gerade die beiden wichtigsten Formen neuerer westlicher Zitatpraxis – gesellschaftliche Aktualisierung und ironisches Spiel – in Guan wenig Anerkennung finden. Der Satz Lichtenbergs: „Gerade das Gegentheil tun ist auch eine Nachahmung“ gilt in Guan auch für Ironie und Parodie, die Haltung gegenüber Aktualisierungen ist noch ablehnender. Trotz aller gesellschaftlichen Unterschiede könnte man sich einmal fragen, ob diese im Westen so geschätzten literarischen Techniken dieses Lob immer verdienen. Daß das ironische Spiel nicht immer höchste Kunst ist, wissen wir durch unsere Erfahrungen mit der Reklamesprache. Die Unterschiede zwischen modernen Zitaten und denen früherer Zeiten sind vielleicht nicht so gewaltig wie wir manchmal meinen. Die Gefahren des verbogenen Bewußtseins und der neurotischen Handlungshemmung gelten gerade auch für das 20. Jahrhundert.